jesusamen.de
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Als mich mein Herr (Gott) beim Namen gerufen hatte und mir durch Seine Offenbarung Geheimnisse des Himmels anvertraute, teilte Er mir meinen neuen Namen mit. „So sollst du dich fortan nennen, es ist in Ewigkeit in die Himmel (Universum) geschrieben: Acon“.

 

AGITATIO

Bewegung – Betreibung – Regsamkeit
Redsamkeit - Rührigkeit

CONCILIO

Zusammen bringen – verbinden – gewinnen – empfehlen –vermitteln
Zustande bringen – erwerben – verschaffen

OSTENTUS

Zum klaren Beweise – das Zeigen und Aufzeigen
Zeichen setzen *)

NUMEN

Göttliches Walten – Schickung – Macht – Wesen – Gottheit –Befehl
Wille – Wink

*) Gegensatz: ostentus credere – für Blendwerk halten

 

 

 

 Eine Meditation zu:

 

Ich bin angekommen, ich bin zuhause

 

Ich bin angekommen bedeutet, ich habe aufgehört zu rennen und bin im gegenwärtigen Moment. Nur er umfasst Leben. Atme ich ein, mache ich einen Schritt, berühre ich das Leben. Mit dem Rennen, den Hetzen aufhören ist wichtig. Nach Frieden, Glück und Stabilität kann ich nur im Jetzt Ausschau halten. Im Jetzt ist mein Zuhause. In ihm entdecke ich Wunder. Kummer und Sorgen werden geringer.

 

„Ich bin angekommen“, „ich bin zuhause“, diese Verse eignen sich für die Geh- und Sitzmeditation. Beim Einatmen sage ich „angekommen“, beim Ausatmen „zuhause“.

 

Bin ich im Hier und Jetzt angekommen, kann ich das Leben mit all seinem Wundern berühren. Der Regen ist ein Wunder, der Sonnenschein ist ein Wunder, die Bäume sind Wunder, die Gesichter von Kindern sind Wunder.

 

                                      Aus: Inspirationsbuch 2012, Seite 225+226

 

Jesus sagt: Ich bin der Anfang und das Ende, Ich bin der Ich bin: AMEN

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Über die Treue

 

Mit ewiger Liebe habe Ich dich geliebt, darum habe Ich dich zu mir gezogen.

Ich habe dich beim Namen gerufen – du bi

 DOCH ÜBER ALLEM IST DIE LIEBE

 

Für meine Mama „Mutter Theresia von der gekreuzigten Liebe

 

 

 

Bekehrung ist ein Sprung ins Licht der Liebe Gottes

 

Nürnberg, am Tag des Bonifatius 1989

 

Liebe Mama, Du treue Magd des Herrrn,

 

ich habe gesündigt in meiner jugendlichen Unvernunft und lud große Schuld auf mich. Erst im reifen Mannesalter bekehrte ich mich zu DEM, dessen Fundament Du in mein kindliches Herz gelegt hast. Gott in der Dreifaltigkeit trat selbst durch Jesus Christus in mein unwürdiges Leben und ist nun mein Erzieher. Er hat mich zerschlagen und eine neue Kreatur aus mir geformt. Er nahm meine Reue und meine Buße an und ich durfte Seinen Kreuzweg mitgehen. Er zeigte mir Seine Wundmale und Seine Dornenkrone.

 

Du treue Magd des Herrn, Deine Liebe hat Früchte im Überfluss getragen. Ich habe Deine Liebe gekreuzigt und Dein Herz mit Dornen umspannt. Dunkle Jahrzehnte satanischer Verführungen liegen hinter mir; der Vater im Himmel warf sie in das Meer der Vergebung.

 

Gott rief mich in die Stille. Die Tiefen der Gottheit durfte ich in Klausur erfahren. Er offenbarte mir Sein Lieben und Sein Leben. Ich habe Gemeinschaft mit Ihm. Welch eine Liebe und Barmherzigkeit unseres Erlösers, dass Er mir an der Schwelle der Endzeit solch eine Mutter in Christo gegeben hat. Ministra Jesum Christum, Du hast mich auf meine dunklen Jahre vorbereitet und mich beten gelehrt. Durch das Gebet fand ich Gehör bei Gott und der Teufel flieht seit meiner Bekehrung von mir. Gelobt sei Jesus Christus, den mir meine geliebte Resl- Mama gelehrt hat.

 

Jede lange Wanderung beginnt mit einem ersten Schritt. Heute wandere ich an der Seite meines Herrn, Jesus Christus – ich bin einer Seiner Jünger. Ich erzähle Ihm auf unserem Weg nach Kanaan von meiner glückseligen Kindheit in Hauxdorf.

 

Sei gegrüßt, geliebte Mama, Ave.

 

Wir sehen uns bald wieder für immer, meine Freude besiegt den Schmerz.

 

Dein Waggi.    

 

 

 Tatsachenbericht aus der Kindheit Acons

 

Die Landstraße war leer. Auf den Feldern, die nun abgeerntet waren, suchten die Kolkraben nach Futter. Im Tal waren die Nebelschwaden erkennbar; es wurde schon empfindlich kalt in diesen September- und Oktobertagen. Tagsüber scheint die Sonne, doch ihre Kraft lässt merklich nach und die Schatten werden länger. Es ist früh am Morgen, vom nahen Dorf her kräht der Hahn, hie und da vernimmt man das Muhen einer Kuh, die am frühen Morgen gemolken werden will.

 

Niemand nimmt die Frau gewahr, die sich zu dieser Stunde abmüht, mit ihrem klapprigen Stahlross die Anhöhe hinauf zu kommen. Weit vornüber gebeugt, nicht links noch rechts schauend, tritt sie in die Pedale. Sie ärgert sich über das Kopfsteinpflaster, das sie und ihre Fracht heftig durchschüttelt. Nach dem nächsten Dorf beginnt die Asphaltstraße, da wird es besser. Doch zuvor muss sie noch die Anhöhe überwinden. Oben will sie eine kurze Rast einlegen. Ab und zu sieht sie sich um, ob auch der Weidenkorb noch fest auf dem kaputten Gepäckträger angebunden ist. Nicht auszudenken, würde das Körbchen aus dem Gleichgewicht rutschen! Auf halber Höhe lassen ihre Kräfte nach, sie schiebt das Fahrrad bis zur Höhe hinauf. Da ist eine Bank, etwas nass vom Tau, aber das stört die Frau nicht. Schlimmes hat sie erleben müssen, in den letzten Tagen.

 

Das Rad hat sie an einen Baum gelehnt, den Weidenkorb losgebunden und neben sich auf die Bank gestellt. Der neue Tag löst die Nacht ab, von der Anhöhe kann sie über den Wald zurück in die Stadt schauen, aus der sie kommt. Feuerhell erleuchtet ist die Stadt, sie sieht den Schein auch vierzig Kilometer davon entfernt, als sei sie noch darin eingeschlossen. Die Flammen vernichteten ihre Habe und ihr Gut. Wie viele tausend Menschen werden dort in der zerbombten Stadt nach ihren restlichen Habe suchen? Wie viele werden verbrannt, von Trümmern erschlagen und tot sein? Drei Jahre dauert nun schon dieser verherrlichte Krieg. Ihr Mann ist irgendwo in Russland an der Front. Gestern fiel zum erstenmal Feuer und Tod vom Himmel: Stabbomben, Brandbomben, Phosphorbomben oder wie die todbringenden Dinger sonst noch heißen. Vom Geschäft, das sie sich mit ihrem Mann mühsam aufgebaut hatte, blieb nur noch rauchender Schutt. Noch immer brennt die Stadt. Sie kann nicht mehr weinen. Zwei Kinder hat sie schon verloren, zwei bleiben ihr noch. Ein Mädchen und einer der Zwillingsbuben, die erst vor sechs Wochen geboren wurden. Das Mädchen ist bei ihrer Mutter, außerhalb des Stadtkerns vorerst noch in Sicherheit; es ist ja schon aus dem Gröbsten Eineinhalb Jahre ist das Mädelchen alt. Den Kleinen, ihren Herzallerliebsten, hat sie bei sich. Trotz der schwierigen und holprigen Fahrt schläft das Kind im Weidenkörbchen.

 

Langsam wird ihr Atem wieder ruhiger. Sie will im nächsten Dorf das Fläschchen für den Säugling von einer Bäuerin anwärmen lassen. Die Muttermilch reicht für die Wegzehrung nicht aus. Vierzig Kilometer erst, denkt sie, erst ein Drittel ihres Weges in die Oberpfalz. Zu einer Tante will sie den neuen Erdenbürger bringen. Auf das Land, wo er vor dem Bombenhagel sicher ist und vor dem Inferno, dem sie diese Nacht entrann. Das Fanal war erst der Anfang vom Ende. Das fühlt sie.

 

+++

 

Die bayerische Ostmark ist keine Währung, sondern ein Gau. Jedenfalls im so genannten „Großdeutschen Reich“ wird die Gegend so benannt, wo sich Fuchs und Hase „Gute Nacht“ sagen. Das Wort „Fremdenverkehr“ ist ein Fremdwort. Im Wald wohnen die Inzestbetreiber, sagen gehässige Leute mit geschwätzigen Zungen.

Der Wald – dieser schöne und herrliche Wald zieht sich an der ganzen böhmischen Grenze entlang – bis hinauf zum Steinwald. Der Steinwald hat seinen Namen nicht umsonst. Das Sechsämterland um den Steinwald herum ist voll von Steinen und Felsen und kargen, steinharten Boden. Hier treffen die Worte voll zu: Die Bauern sind steinreich! Sie haben ein hartes Tagwerk; die vielen kleinen Schollenbesitzer und die wenigen Großbauern. Ein Großbauer ist man schon mit ein paar Rössern im Stall und ein paar kräftigen Zugochsen. Wenn man anstelle eines eisenbereiften Leiterwagens vier luftgefüllte Pneus am Erntewagen hat, ist dies bereits Fortschritt. Die Menschen sind wortkarg, das raue Klima hat sie geformt. Das Leben auf dem Dorf ist ein Gemeinschaftsleben. Jeden Tag ist eine andere Familie an der Reihe, die vielen Steine aus den Furchen der Feldwege zu räumen.

 

Jetzt, da die meisten jungen Männer weit fort auf dem Schlachtfeld sind, müssen die Frauen zuhause noch mehr arbeiten. Daheim merkt man nicht viel vom Krieg; zwei, drei Kühe und einige Ziegen und Hühner nennt jeder Hof sein Eigen. Wenn es auch ein langer und harter Arbeitstag ist, so klagt doch keiner der „Steinpfälzer“ über die Schwielen an den Händen. Wer würde da von Armut sprechen, solange die Mäuler der Kinder und die eigenen gestopft werden! Und Kinder haben sie Alle reichlich. Der Großbauer ebenso wie der Häusler. Acht, zehn, zwölf Fresser – und der Vater im Dienst des Vaterlandes!

 

Die Resl hat Glück gehabt, dass ihr Hans nicht für Volk und Ver- Führer fort musste. Schon einmal hat er den Wahnsinn mitmachen müssen. Bis nach Verdun kam er damals und der Wahnsinn des Mordens hieß: Vierzehn- achtzehner- Krieg. „Jeder Stoß ein Franzos“ hatte man ihnen seinerzeit eingebläut.

 

Der Hans hatte Glück, nicht nur seine Resl, denn er hat nur ein paar Granatensplitter in seinem Leib, die ab und an wandern und schmerzen. Aber er ist mit dem Leben davongekommen und ist jetzt zu Hause. Von den zehn Tagwerken hat man sein Auskommen. Der Hans ist ein angesehener Mann, denn er ist nicht nur Landwirt, sondern auch Imker und Obstbaumwart. „Besser ein Obstbaumwart als ein Reichswart“, meint er. Wenn man seinen Obstgarten sieht, weiß man, dass er sein Handwerk versteht. Nicht umsonst hat ihn der Herr Baron vom Schloss des Nachbardorfes in seine Dienste genommen. Der Hans ist ein gefragter Mann, die Resl eine fleißige Frau. Urlaub ist ein Wort, mit dem die Beiden nichts anzufangen wissen. Einmal in ihrem Leben möchte die Resl zum Papst nach Rom. Aber das ist eine andere Welt, unvorstellbar weit für sie. Einige Mal war sie in Nürnberg, das ist schon eine halbe Weltreise. In der Regel lernt man sich im Dorf mit der Kirche kennen, in Erbendorf. Beim Kirchgang hat man das Festtagsgewand angelegt. Da kommt es dann schon vor, dass ein Mädchen einen Burschen kennenlernt und nach der Verlobungszeit einige Weiler weiter „fort heiratet“. Die meisten bleiben bei ihrer Heirat aber im Dorf.

 

Der Hans hat seine „Resl vom Aschenhof“, einem Zweifamilien- Nest hinter dem Kirchenwald, gefreit. Zwei Großfamilien waren da schon ein Dorf. Die Grünbauer hatten vierzehn Kinder, die Lehenbauer immerhin ein Dutzend. Dreißig Seelen! Und die ehrwürdigen Großeltern, welche man noch in der Dritten Person ansprach, noch nicht mitgerechnet. Ja, es war schon eine Ehre Gottes, wenn man die Stuben voll „Leben“ hatte!

 

Die Resl war traurig, als sie den Aschenhof verlassen musste.

Der Hans holte sie aus ihrer gewohnten Umgebung weg. Aber dessen gediegenes Anwesen war ja nur einige Kilometer vom Aschenhof entfernt und nicht aus der Welt. Sie mochten und sie liebten sich – streng nach den Mahnungen des Pfarrers.

 

Ein schönes Dorf war das Daheim vom Hans. Vom Städtchen, das auch Dorf genannt wurde, führte ein Fußweg über den Galgenbach nach Hauxdorf. Am Galgenbach war eine gruselige Stelle und die Weiber gingen unweigerlich schneller, wenn sie über den schmalen Steg huschten. Da hat man vor langer Zeit die Gesetzesbrecher aufgehängt – und nach dem Krieg die Fahnenflüchtigen…

 

Auch eine Schotterstraße führte von Erbendorf; der kleinen Stadt mit der Kirche, dem Schloss, der Schule, den zwei Wirtshäusern und den zwei Fabriken nach Hauxdorf. Diese Schotterstraße benützte der dicke Postbote, der jedes Mal laut schimpfte und auch im Winter schwitzte, wenn er die steile Anhöhe hinauf musste. Manchmal befuhr sie auch der von Pferden gezogene Leichenwagen, wenn ein Dörfler den Weg allen Irdischen gegangen war. Der „Schinder“ kam ebenfalls über die Schotterstraße ins Dorf. Der Mann aus der Abdeckerei kam, wenn ein tot geborenes Kalb oder eine gefreckte Kuh abgeholt werden musste. Der Leichenwagen wurde zum Friedhof von den Dorfbewohnern begleitet, die den Umweg nach Erbendorf gerne in Kauf nahmen, da sie doch dem Verstorbenen rosenkranz- betend die letzte Ehre erwiesen. Und die Totenglocke läutete und nachher ging es zum Leichenschmaus in eines der beiden Wirtshäuser und es war eine schöne Leich’.

 

Der Schinder kam mit keinem geschmückten Pferdegespann – der kam mit dem Lastauto und einer stinkenden Plane über der Ladefläche. Die Viecher die er abholte, begleiteten kein Trauerzug und keine Posaunenbläser. Sowohl der Leichenwagen als auch der Schinderkarren waren im Dorf nicht gern gesehen, hatten doch beide etwas mit Gevatter Tod zu tun. Manchmal brachte der mit dem Lastauto und der Plane darüber mehr Sorge und Leid in ein Häuslerleben als jener mit dem schönen Pferdegespann und der Kiste auf dem schwarzen Wagen.

 

+++

 

Sie waren also dem Herrgott dankbar, die Resl und der Hans. Und sie haderten auch nicht mit Ihm, dass Er ihnen ihren sehnlichsten Wunsch nicht erfüllte: Ein eigenes Kind. Beide waren schon beim Spezialisten, aber der konnte ihnen auch nicht helfen. „An irgendeinen von euch Beiden liegt das Problem schon“ meinte der Studierte; „wenn’s am Hans nicht liegt, liegt’s halt an der Resl!

 

Das war ein schwacher Trost, denn eine kinderlose Ehe war in den Augen der Einheimischen nichts Gutes. Die Jungen sollten ja später für die Alten da sein. Das Wort „Altersheim“ war für die Meisten ein Fremdwort wie Urlaub. Die Alten wohnten in der Regel im Austragshäus’l, das auf das Grundstück gebaut wurde. Und litt Jemand an Demenz, sagte man bedauernd. „Der spinnt halt a bisserl“. Das Austragshäus’l war das angestammte Elternhaus, sobald sich die Jungen ein neues Domizil errichtet hatten. Stets half das ganze Dorf, wenn ein neues Haus, ein Stall oder eine Scheune gebaut wurde. Der Herrgott war dem Dörfchen mit den zwölf Häusern und dem Backofen in der Mitte wohlgesonnen. Wusste man doch nicht einmal von den schlimmen Kriegsereignissen, die in diesen Tagen in den Großstädten des Reiches das Verderben brachten.

 

Bestimmt hörte man am Volksempfänger von den Engländern und den Tieffliegern, aber Gefallene gab es auch in der Steinpfalz. Und der Wetterbericht war genauso wichtig.

 

Für den Hans und sein Weib wäre ein eigenes Kind ja auch wichtig gewesen! Sie hatten zwar die Maria, das Kind von dem Hans seinen Bruder auf dem Hof, aber es war halt nicht das eigene Fleisch und Blut. Das Mädchen war sechs Jahre alt, als es immer wieder von zuhause weglief, um zum Onkel und zu der Tante zu kommen. Eines Tages meinte der Vater von Maria, der Christian: „Lasst doch das Mädchen ganz bei euch, dann braucht sie nicht mehr von zuhause weglaufen“.

 

Noch zwei Ziehkinder hatte die Jungfer Therese über Nacht bekommen. Zwei Buben. Zwillinge! Auch aus der Verwandtschaft. Sie waren drei Jahre alt, als ihre Mutter nach der Geburt eines Schwesterchens, der Resi starb. Der Vater heiratete wieder und die beiden Buben Kare und Luggi, soll heißen: Karl und Ludwig, bekamen eine Stiefmutter. Der Vater musste hinaus, um das Vaterland zu verteidigen und dem Kare und dem Luggi gefiel es bei der neuen Mutter nicht. Zuerst besuchten sie die Resl- Tante einen Tag lang, dann eine Woche, dann ein Monat und übers Jahr wollten sie überhaupt nicht mehr heim zur Stiefmutter. Die neue Mama war keine Bäuerin, sondern eine Flüchtlingsfrau aus Erbendorf. Von der Gemeinde bekam sie und ihre Kinder ein kleines Häuschen mit einem großen Kastanienbaum davor als Asyl gestellt. Das Wohnrecht im Armenhäuschen war mit der Auflage verbunden, die Dorfglocke zu läuten. Diese war am höchsten Punkt der hoch gelegenen Ortschaft aufgestellt. Auf vier Holzpfählen und unter einem schiefen Blechdach hing das Glöckchen. Morgens, mittags und abends wurde zum Gebet geläutet – und zwischendurch, wenn ein Dorfbewohner gestorben war.

 

Und da es dem Reserl ohne Brüderpaar daheim nicht gefiel, durfte sie zum Kare und zum Luggi und somit zum Hans und zu der Resl.

 

Da sage Einer, der Allmächtige erhöre kein Gebet!!!

 

Dem Vater von den drei Kindern schenkt man nach zwei Jahren den Rest vom Krieg um das tausendjährige Reich. Eines Tages steht er vor der Tür des Armenhäusl’s. Seine Frau freut sich, denn der Sepp braucht nicht mehr hinaus aufs Schlachtfeld. Auch der Bürgermeister des Dörfchens freut sich. „Sepp, jetzt haben wir einen tüchtigen Gemeindediener“ meint er spitzbübisch, aber ehrlich. Na ja, ganz so freiwillig haben sie den Sepp nicht heimgeschickt vom Krieg. Den linken Hax’n hat er schon dortlassen müssen, an der Front.

 

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Nachmittags beginnt es zu regnen. Manchmal begegnet der einsamen Radlerin mit der kostbaren Fracht auf dem Gepäckständer ein Fahrzeug. Meistens ist es ein Fuhrwerk, das die Kartoffelernte heimbringt. Den großen Truppenübungsplatz umfährt sie. Sie befürchtet ein Kettenfahrzeug oder eine Wagenkolonne, die ihr auf der schmalen und ramponierten Straße entgegenkommen könnte. Womöglich waren alle Kriegsfahrzeuge auch im Osten eingesetzt. Kanonendonner hörte sie keinen. Könnte ja sein, dass die Bombergeschwader auch hierher kommen. Besorgt dreht sie sich nach ihrer Fracht um. Über dem Kissen liegt ihr Lodenmantel. Überdies hat sie eine Wäscheleine um den Korb gewickelt, die sie vom letzten Hof erbat.

Über das Gesichtchen des Kindes hat sie ihren zerschlissenen Regenschirm gespannt. Ihre Haare sind unter einem Tuch versteckt. Auf der Stirn hat sie das Tuch verknotet. Der Regen rinnt ihr über das Gesicht. Nichts ist mehr zu erkennen von ihrer makellosen Schönheit, um die sie die Leute stets bewunderten. Kein Wangenrot, keine nachgezogene Augenbraue, keine roten Lippen. Sie hat, seitdem sie letzte Nacht zu ihrer abenteuerlichen Reise aufbrach, andere Sorgen. Noch immer hat sie die dröhnenden Motorengeräusche der todbringenden Flugzeuge in den Ohren. Vor ihrem geistigen Auge sieht sie den brennenden Hauptbahnhof Nürnbergs. Auf die Eisenbahn konnte man sich in diesen wirren Kriegstagen nicht verlassen und die Fahrpläne waren wertlose Papierfetzen.

 

Aber bald hat sie es geschafft. Der hohe Tannenwald gibt ihr etwas Schutz. Der steile Berg verlangt ihr nochmals ihre gesamten Kräfte ab. Die Landstraße von dem Weiler Hessenreuth nach Erbendorf ist eine ausgewaschene Lehmstraße. Der Regen wird von dem Erdboden nicht so schnell aufgenommen wie das Wasser abfließen kann. Kleine Rinnsale umspülen ihre Füße, als sie ihr Gefährt den steilen Berg hinaufschiebt. Trotz der durchnässten Kleidung ist ihr heiß. Hoffentlich wird der Kleine nicht krank. Wie schnell kann sich der Säugling eine Lungenentzündung zuziehen. Gott hilf!

 

Erst vor fünf Wochen starb das Zwillingsbrüderchen des Kleinen in der Klinik. Als Siebenmonatskind hatte es keine Überlebenschance. Ist ja das winzige Etwas in ihrem Weidekörbchen hinter ihr nur ein Häufchen Leben. Leben? Sie stockt und schiebt den Schirm zur Seite. Beugt sich über das Kindlein. Er atmet ruhig und sieht zufrieden aus, als mache ihm seine erste große Reise sichtbar Spaß. Er ist ja mollig und wasserdicht verpackt.

 

Endlich hat sie die Bergkuppe erreicht. Von hier aus geht es beinahe fünf Kilometer bergab – bis nach Erbendorf. Fünf Kilometer ohne kräftezehrendes Treten in die Pedale! Nur nicht zu schnell, damit das Bübchen keinen Luftzug ausgesetzt wird. Der Wald lichtet sich. Endlich! Die beiden Kirchtürme des kleinen Städtchens, das Dorf genannt wird, grüßen die Neuankömmlinge. Der hohe Turm der Katholiken, der wie ein hochgestreckter Finger in die Wolken ragt; der etwas gediegenere Turm der Protestanten, der wie ein schüchterner Fremdling dasteht. Und rechts auf der Anhöhe grüßt Hauxdorf, das Ziel ihrer Reise, herüber. Gott sei gedankt! Der Regen lässt nach. Sie ist bis auf die Haut durchnässt, doch das nahe Ziel vor Augen gibt ihr neue Kraft.

 

Vor dem Galgenbach fürchtet sich das tapfere Weiblein. Deswegen nimmt sie den beschwerlichen Umweg über die Schotterstraße in Kauf. Noch einmal heißt es schieben. Das Trafohäuschen, dann die Schutthalde des Dörfleins. Die erste Hecke und der Feuerlöschteich, dann die ersten Lichter in den Ställen. Erst jetzt bemerkt sie, wie lange sie unterwegs war. Zwölf oder vierzehn Stunden von Nürnberg bis nach Hauxdorf. Sie schaut in den dunklen Abendhimmel und dankt Gott in der Höhe: „Vater unser, der Du bist da oben, gelobt und geheiligt sei Dein Name, Dein Wille geschieht“! Nur an das winzige Kind hinter sich denkt sie momentan. Himmlischer Vater, lasse es nicht sterben. Die Schrecken der vergangenen Tage und die Sorgen um ihren Mann, der irgendwo in Russland um sein Leben kämpft, verdrängt sie in ihr Unterbewusstsein.

 

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Rolfi, der Hofhund liegt auf dem kühlen Boden des Hausflurs. Sein warmer Atem hinterlässt warme Kondensflecken auf dem kalten Beton, wenn er ausatmet. Sobald er einatmet, verschwinden die Flecken wieder. Die Resl gibt die frisch gemolkene Milch in die Zentrifuge und die Maria setzt die Kurbel in Bewegung. Zuerst ganz langsam, dann immer schneller werdend. Die drei anderen Kinder vertreiben sich die Zeit in der warmen Stube. Ab und zu legt das Reserl ein Scheit Holz in den großen Ofen nach, um die Wärme möglichst lange zu speichern. Die Zwillinge Kare und Luggi spielen mit ihrem Panzer, den sie aus einer leeren Streichholzschachtel, einem Korken und einem Einweckgummi gebastelt haben Gleich gibt es Abendbrot.

 

Der Onkel Hans muss nur noch die Kühe striegeln. Ihr Futter haben sie schon bekommen. Wenn das Vieh versorgt ist, kommen die Menschen mit dem Essen dran. Es gibt Erdäpfel mit frischer Butter, dazu Ziegenkäse mit Schnittlauch aus dem Kräuter- Vorgärtle. Mit Malzkaffee oder Buttermilch dazu ist das eine gesunde und frische Mahlzeit. Und der Onkel Hans gönnt sich sein Seidlein Bier aus der grünen Bügelflasche. Und ein Geselchtes, also ein schwarzgeräucherter Schinken aus dem Schlot ist auch da. Und die Tante Resl – die Resl- Mama – passt auf, dass niemand zu kurz kommt. Alle werden satt. Auf dem Dachboden ist bereits der Saatweizen für das nächste Jahr aufgeschüttet und das Dörrobst, das man hier Hutzeln nennt liegen daneben auf Zeitungspapier zum trocknen auf. Und…und…und – die Kinder sollen gesund daherkommen, sagt die Resl, sonst reden die Nachbarn gleich darüber, die Kinder bekämen zu wenig zum essen. Eine überflüssige Sorge, denn das ganze Dorf weiß, wie gut es die „Rankersen“*) bei ihr und dem Obstbaumwart haben.

 

+++

 

Rolfi hat als Erster das Quitschen des Hoftores bemerkt. „Wuff“! Etwas müde klingt der Laut, der ein Kläffen werden sollte. „Wer kommt denn heute noch?“ meint die Resl- Mama. Einer oder Eine vom Dorf wird halt vorbeischauen. Vielleicht hat Jemand einen Brief oder ein Telegramm bekommen: „…müssen wir Ihnen mitteilen, dass Ihr Mann für Volk und Führer der Heldentod für das Vaterland ereilt hat“. Die Resl schiebt den Hund unter die Bodentreppe. „Still Rolfi“, beschwichtigt sie den Aufpasser und geht zur Haustüre. Sie dreht den Schlüssel zweimal um und öffnet.

 

Ihr markerschüttender Schrei lässt in der Wohnküche alle Anwesenden verstummen. „Frieda – um Himmels Willen, wo kommst du denn her?“ Stille. Und etwas leiser: „Frieda – wie siehst du denn aus?“

 

Die Kinder sitzen augenblicklich still und stumm und ganz brav in der Ecke des langen Kanapees, wo sie sich nach der „Mama“ ihrem Schreckensschrei geflüchtet haben. Der Hans ist aufgesprungen und will ebenfalls zur Haustüre. Da kommt seine Frau schon mit dem Bündel zurück, das sie der Frieda abgenommen hat. Der Hans rückt seiner Nichte einen Stuhl zurecht, auf den sich die Frieda erschöpft und apathisch hockt.

 

Die Resl legt das Bündel auf den Tisch und zieht die Lampe herunter. Sie entfernt zuerst die Wäscheleine, dann den Lodenmantel und danach das Kissen. Der Hans brüht für die Frieda starken Kaffee auf, di jetzt langsam gewahr wird, dass sie völlig durchnässt ist. Als Erste getraut sich die Maria vom Kanapee aufstehen. Sie will wissen, was da nun auf dem Tisch freigelegt wurde.

 

*) gesunde, lebhafte Kinder

Aber gleich wissen es auch die anderen Drei, denn auf der Unterlage fängt etwas zu schreien an. Und das hört sich wie dem Reserl sein Geplärre an, wenn es der Kare oder der Luggi an den Zöpfen ziehen. Nur etwas herausfordernder klingt das Schreien; so etwa, als verlange da Einer nach Nahrung.

 

Die Resl fängt sich als Erste wieder. Das Kind ist zwar von außen her trocken, aber in den Windeln verbirgt sich mehr als Nässe. Man riecht es. Nun umringen Alle den Tisch! Die Zwillinge knien auf der Eckbank. „Oh“ und „ah“ – mehr können sie im Augenblick nicht sagen. Die Maria soll ein Fläschchen mit Milch oder Brei oder Tee zubereiten. Das scheint der Säugling zu verstehen. Er schreit nicht mehr so laut. Die Resl trägt ihn in der Stube hin und her und her und hin. Und sie kann immer nur „das arme Würmchen, das arme Wackerle“ sagen.

 

Der Hans meint, die Frieda soll in der Kammer nebenan ihre nassen Kleider ausziehen. Aber die bleibt vorerst sitzen und schlürft das heiße Getränk. Mit dem Fahrrad ist sie von Nürnberg bis hierher gestrampelt! Die Erwachsenen können nicht begreifen, was sie sehen. Und zu den Kindern hätte man genau so gut sagen können, die Tante Frieda käme vom Mond. So weit weg ist die große Stadt in der Vorstellungswelt der Gören.

 

Die Frieda erzählt vom zerbombten Geschäft und von den vielen Toten und dem großen Feuer und von verbrannten Leichen und von der Hölle. Zwischendurch hört man die Resl, wie sie mit dem Kind in ihren Armen spricht. „Mach Kopperle, bsch…bsch…bsch, armes Würmle, armes Wackerle, du kleines Scheißerle, mach dein Bäuerchen“ und so weiter. Was wird noch alles geschehen, in diesen argen, verdammten Kriegstagen?

 

„Ihr müsst das Kind bei euch behalten“, bittet die Frieda, „in der großen, zerbombten Stadt ist das Leben viel zu unsicher geworden“. Alle staunen, wie gut das Wackerle seine erste große Reise überstanden hat. Die Mama- Resl will das untergewichtige Buberl nicht mehr aus den Armen geben. Und wo vier Kinder satt werden, da wird ein fünftes auch noch satt, meint der Onkel Hans. „Das braucht doch noch die Brust“, ruft die Maria vorlaut! Sie meint, das kleine Etwas mit dem rosa Gesichtchen wie ein Ferkelchen müsse sonst verhungern. Alle hören nur vom Wackerle, vom Scheißerle, vom Maunzerle und vom armen Würmchen. Da fragt der forsche Kare, ob das Kind denn keinen richtigen Namen hätte und der ruhige Luggi ist der Neugierigste: „Wie heißt denn das Scheißwackerle nun richtig“? Da hört man endlich ein verhaltenes Lachen der Erwachsenen.

 

Die Frieda erklärt den Anwesenden mit erhobenem Zeigefinger und ganz feierlich: „Das ist unser liebes Karlheinzle“. Und das Karlheinzle rülpst zur Bestätigung laut vernehmbar. Der lange Name gefällt der Maria nicht. Sie protestiert, denn schließlich ist sie ja auch jemand. Da klärt die Tante Resl die Kinder auf: „Der lange Name steht nur im Taufschein unseres Waggi, für uns ist und bleibt er der Heinzi“!

 

„Der Heinzi“ rufen da die Kinder im Chor, „das ist prima“. Und der Onkel Hans meint lächelnd: „Der hat uns in unserer Sammlung noch gefehlt“.

 

Später als gewöhnlich gehen die Leut’ vom Haus Nummer neun in Hauxdorf an diesem ereignisreichen Abend zu Bett. Die Resl- Mama hält ihren Heinzi fest im Arm und dankt Gott für das Kind, das ihr noch viele schlaflose Nächte bereiten wird.

Der Winter war schneereich. In den Stuben wurde gestrickt und in den Ställen, wo es angenehm warm war, wurden die Strohbänder für den nächsten Sommer gedreht. In den Kammern wurde gebastelt und in der Werkstatt schnitzte der Onkel Hans neue Krippenfiguren.

 

Im Märzen der Bauer die Rösslein einspannt, heißt es in einem Kinderlied. Da wurden die Felder neu bestellt und die Arbeitstage wurden wieder länger. Sechzehn Stunden im Schweiße des Angesichts waren da keine Seltenheit. Im Sommer und zur Erntezeit wurde noch mehr gearbeitet und man schwitzte - genau – noch mehr. Dann brannten wieder die Kartoffelfeuer und es war Herbst. Der Kare und der Luggi hatten ihren ersten Schultag hinter sich. Sie waren stolz auf ihre neuen Cordhosen und ihre Sonntagsschuhe durften sie jetzt zur Schule anziehen. Wie alle Buben hatten sie einen Stoppelhaarschnitt bekommen, der schon mehr einer Glatze ähnelte. Anders war die Läuseplage nicht zu bekämpfen.

 

Sepp, der Gemeindediener und Vater von den Zwillingen hatte ein neues Holzbein erhalten und das Armenhäuschen ein neues Dach und einen frischen Anstrich. Nun nannte man es das Gemeindehaus und aus dem Ziegenstall wurde ein netter Anbau. Da meinte der Sepp, die Kinder sollten halt wieder zu den Eltern ins Gemeindehaus ziehen, es ist ja nicht aus der Welt, nur ein paar Meter über den Dorfplatz. Die Resl hätte ja nun alle Hände voll zu tun, wo doch die Frieda ihren Jungen auch noch gebracht hat. Die Kinder konnten sich ja täglich sehen und zuhause hätte seine Alte genügend Zeit, mit den neuen ABC- Schützen zu lernen. Fünf Jahre lang haben der Hans und die Resl nun seine Sprösslinge versorgt, das sei ja nimmer gut zu machen, sagt der Sepp und ist dankbar, dass seine „Bankerten“ so gut versorgt wurden als er das Vaterland verteidigen musste. Eine Verteidigung, welche Angriff hieß!

 

Der Luggi und das Reserl haben nichts dagegen einzuwenden, wieder zu den Eltern zu ziehen. Aber der Kare! Der will beim Onkel Hans und der Tante Resl bleiben und bei der Maria und dem Heinzi. Da niemand in der Gemeinde und in der Familie ein Seelenleid widerfahren soll, behält der Kare seinen Strohsack in der Kammer über dem Misthaufen.

 

Aus dem kleinen rosa Ferkelchen vor einem Jahr ist ein pausbäckiges, lebhaftes und gesundes Krabbelkind geworden. Nicht einen Augenblick lässt die Resl ihren Liebling aus den Augen und der Hans umschwirrt das Waggerl wie ein Schutzengel. Kein Wunder, war doch das erste Wort des Kleinen: „Dadda“ und es heißt soviel wie Papa! Auch das Wort „Mama“, das der Waggi bald aussprechen, kann wärmt die Seelen des Ehepaares, das keine eigenen Kinder zeugen konnte. Nun hatten sie ihr „eigenes Kind“ bekommen – ganz ohne Geburtswehen und ohne Hebamme!

 

Die Maria fühlt sich manchmal vernachlässigt. Der Waggi bekommt alles, was sie nicht bekommt, begehrt sie auf. Ständig darf er „Hoppe, Hoppe Reiter“ machen und wenn er im Kinderwagen liegt wird er geschaukelt und essen muss er auch nicht selbst. Jedoch das Ärgerlichste: Nachts darf der Heinzi- Waggi tatsächlich zwischen dem Onkel Hans und der Tante Resl schlafen! Genügt doch schon, dass er sein Bettchen im Schlafzimmer aufgestellt bekam. Sogar ein rundes Kanonenöfchen hat man in den Ruheraum installiert, damit der Pimpf nicht frieren muss, wenn ein strenger Winter Eisblumen ans Fenster malt. Noch ehe sich die Eifersucht des Mädchens ausreifen kann, nehmen sie der Onkel und die Tante in den Arm und erzählen ihr eine schöne Geschichte.

Die Maria brauche sich nicht zu ärgern, schließlich war sie ja auch einmal ein so ein kleines Würmchen, das geschaukelt und verwöhnt wurde. Auf dem Herbstmarkt habe sie doch den schönen Pullover bekommen und die glitzernden Spangen für ihre Zöpfe und neue Schuhe, was der Waggi nicht bekommen habe. Sie sei ja schließlich schon eine junge Dame, sagt ihr die Resl- Tante und muss ihr gleich erklären, was eine Dame sei. Übrigens braucht man die Maria ganz notwendig, wer sollte sonst den Heinzi spazieren fahren, wenn die Erwachsenen die Arbeiten verrichten müssen?

 

Bei aller Fürsorge, welche die Resl für die anderen Kinder aufbringt, übersteigt ihre Liebe zu ihrem Nesthäkchen das übliche Maß. Der Waggi wird gehätschelt und behütet wie ein Augapfel. Es ist ja unvorstellbar, würde dem kleinen Scheißer etwas passieren. Sie erinnert sich, was dem Kare damals zugestoßen ist, als der Luggi mit ihm „Räuber und Gendarm“ spielte. Aus einem Weiden- Ästchen, zurechtgebogen zu einen Bogen, wurde ein nicht funktionsfähiges Spielzeug, vermutete man. Es funktionierte aber so genau, dass dem Luggi sein Pfeil genau das Auge von Kare traf. Seitdem hat Kare ein Glasauge. Der Sepp hat der Resl deswegen niemals Vorwürfe gemacht, dennoch belaste die Resl- Mama das Unglück von damals immer noch. Sie denkt nicht an die vielen Tränen, die seinerzeit vergossen wurden; sie will halt nicht, dass so etwas Ähnliches nochmals passiert. Darum passt sie auf den Waggi auf wie die Glucke auf ihr Küken.

 

Doch bei aller Vorsicht und Mutterliebe lässt es sich nicht verhindern, dass Sorgen und schlaflose Nächte im Haus Nummer neun einkehren. Der Waggi wird krank und der Doktor sagt, er hätte Diphtherie.

 

In der Schlafstube wird das Kanonenöfchen angeheizt, keine Nacht findet die Mama ihre benötigte Ruhe. „Es ist schlimm“ sagt der Doktor – „der Bub’ ist halt ein zu früh geborenes Siebenmonatskind und deshalb sehr anfällig für Krankheiten. Der Kleine bekommt keine Luft, ständig muss er getragen werden, damit er am erbrochenen Schleim nicht erstickt. Tage- und Nächtelang will es mit der Krankheit nicht besser werden. Weder die Spritzen des Doktors noch die Mittel aus der Hausapotheke bringen die erhoffte Besserung. Schweineschmalzwickel, Kartoffelkompressen und die verschiedensten Kräuterteechen helfen nicht. Das Licht im Schlafzimmer brennt die nächtelang bis zum Morgen. Die Resl kennt sich nicht nur mit Naturheilmitteln aus, die etwas Besserung bringen. Sie hat die Kraft des Glaubens in sich, der Berge versetzen kann. Sie betet ohne Unterlass zu Demjenigen, der für alle Menschen am Kreuz von Golgota gestorben ist: Gottes Sohn Jesus Christus. Tief in ihrer Seele fühlt sie, dass das Kind wieder gesund wird. Sie drückt den Waggi an ihr liebendes Herz und der Kleine fühlt diese Agape und das Geborgensein. Wer da denkt, ein Kleinkind im Alter von einem oder zwei Jahren kann Gewesenes und Seiendes nicht speichern, denkt falsch.

 

Durch die „Opferliebe“ der Mutter Therese – eine von innen her geprägte Liebe – wird das im Sterben liegende Kind wieder gesund. Der Waggi ist demnach schon zum Sorgenkind der Mama geworden, noch ehe im Laufe der kommenden Jahre weitere schwere Krankheiten überstanden werden müssen. Mit Gottes Hilfe!

 

Als der zweite Winter im Leben des Waggi vorüber ist und die Tage wieder wärmer und länger werden, sind auch die Sorgen um ihn verschmerzt. Und dieser ist lebhaft und putzmunter wie ehedem. Wenn der Hans und die Resl mit ihren Pflegekindern abends in der Stube sitzen, ist der Heinzi stets die Hauptperson.

Alle mögen den Lauser! Der Kare ärgert sich nicht, wenn ihm der Tollpatsch das Kaffeehaferl über die Schiefertafel mit den frisch gemachten Hausaufgaben schüttet. Er schreibt sein Einmaleins eben nochmals. Und die Maria freut sich darüber! Sie ist auch nicht mehr eifersüchtig, wenn der Waggi auf dem Schoß der „Mamatante“ sitzt und „Hoppe- Hoppe- Reiter“ quäkt.

 

Im Sommer – den zweiten – im Leben des Karlheinzle ist Besuch nach Hauxdorf gekommen. Ein Mann in Uniform, der Urlaub von der Ostfront bekommen hatte. Er nahm den Buben auf seine Knie. Daneben stellte man sein Schwesterchen, das Annemariechen, das aus der großen, zerbombten Stadt mitgekommen war. Dann wurde ein Foto gemacht. Nach ein paar Tagen musste der Mann in Uniform wieder fort. Das ist Alles, an was sich der Waggi noch erinnern kann, wenn man von seinem leiblichen Vater spricht. Die Mutti in Nürnberg hatte kurz nach seinem Urlaub ein Telegramm bekommen, vor welchem sich alle Ehefrauen dieser Schreckenszeit fürchteten: …in Pflichterfüllung für Führer, Volk und Vaterland vom Heldentod ereilt… Was konnte die Frieda der Brief ihres Karls noch trösten, den sie zeitgleich bekam. Er hatte ihr geschrieben, dass der Oberarmdurchschuss nicht so schlimm sei und ihn dieser „Heimatschuss“ nicht von den Beinen reiße. Dann kam Post vom Kommando der Wehrmacht. In einem hässlichen, braunen Umschlag mit dem entehrten Kreuz, dem Hakenkreuz, vorne drauf schickte man ihr etliche Schwarzweiß- Fotos vom Soldatenfriedhof in Lemberg, darauf man ein Holzkreuz mit dem Namen ihres Mannes erkennen konnte. Einige Orden und ein Eisenkreuz waren auch im Kuvert. Verdammter Krieg – verfluchter Führer – schlimme Macht Satans.

 

Tränen waren in jenen Jahren an der Tagesordnung – überall! In den zerstörten Städten und auf dem weiten Land. Doch in den Filmaufzeichnungen und getürkten Wochenschauen des Reiches durften keine Tränen gezeigt werden. Der Teufel kennt keine Tränen – weder zu Kriegs- noch in Friedenszeiten…

 

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Zum drittenmal brennen die Kartoffelfeuer. Zum erstenmal steht der Waggi mit respektvollem Abstand daneben und schaut den sprühenden Funken nach. Der Qualm des dürren Krautes steigt in den Herbsthimmel und der Luggi legt kräftig nach, damit die Erdäpfel, die der Kare ins Feuer wirft, auch schön gedämpft werden. Die Maria hilft fleißig beim Aufladen der letzten Fuhre, die noch eingeholt werden muss. Bald wird der Winter Einzug halten, der in der „rauen Pfalz“ um Erbendorf herum meistens sehr lange dauert. Es hat sich Einiges geändert, seit die Frieda vor zwei- einhalb Jahren mit dem Waggi ankam. Jetzt kann man auch im Dorf hinter dem Wald nicht mehr sagen, man merke nichts vom Krieg. Man schreibt das Jahr 1945.

 

Die Tage, da der Kare und der Luggi schulfrei haben, häufen sich. Im Dorf am Rande des Steinwaldes hat man keinen Lehrer mehr. Es wird improvisiert. Die acht Klassen des abgebrannten Schulhauses wurden deshalb in einem Raum zusammengelegt. Als Klassenzimmer dient ein stillgelegter Wirtshaussaal. Der kommende Winter sollte so schneereich wie selten zuvor werden. Die Schneewehen waren dermaßen hoch, dass man die Kinder nicht einmal mit den Skiern oder den selbstgemachten Brettern unter ihren Füßen zum Unterricht nach Erbendorf schicken wollte. Sogar die älteren Bewohner von Hauxdorf scheuten den Umweg über die verschneite Schotterstraße nicht. Da war man noch sicherer als auf dem zugewehten Weg über die Felder und den Galgenbach.

Die letzte Sau musste heimlich geschlachtet werden. Hausschlachtungen sind ab sofort unter Strafe gestellt. Es gibt Lebensmittelmarken, mit denen man nur das Nötigste einkaufen kann. Und man darf seine ehrlichen Gedanken nicht mehr frei aussprechen, der böse Nachbar hört mit. Schnell ist man denunziert und schnell ist man in Dachau, sagen die Einheimischen. Ein unüberlegtes Wort, das früher als Witz galt, kann Einem schon die Freikarte ins Konzentrationslager bescheren. Die wortkargen Bauern dieses Landstriches werden noch verschwiegener. Ein jeder Hof hat den Vater oder den Sohn irgendwo auf dem Schlachtfeld des Todes.

 

Die Resl und der Hans wissen, was alle Leute wissen und nicht auszusprechen wagen. Wenn sie alleine sind, reden sie über den totalen Untergang und sie hören den „Feindsender“, der über die ausradierten Großstädte des Reiches berichtet. Aus dem Volksempfänger hört man nur von Desertierten, von Fahneneid- Verweigerern und von Standgerichten. „Lange kann der Wahnsinn nicht mehr dauern“, wiederholt der Hans beständig. Er sollte Recht behalten.

 

Nach dem Weihnachtsfest kommt der Januar mit Gewalt. Man nennt ihn auch Hartung oder Schneemond. Bis an den obersten Balken des Hoftores reicht die weiße Pracht. Von einem Haus zum anderen kann man nicht mehr schauen. Bis zum Nachbarn muss man sich mit allen Körperkräften durchwühlen und vorwärts kämpfen. Die Dorfkinder bleiben brav in den Stuben und brauchen am Neujahrstag, dem ersten Januar, nicht zur Kirche gehen. Der Waggi muss sich auf die Zehenspitzen stellen, um in den Hof hinauszusehen. So viel Schnee! Die Mama hat bereits einige Pullover gestrickt, die für die große Verwandtschaft bestimmt sind.

 

Der zweite Tag des neuen Jahres ist ein geschichtsträchtiger Tag im jungen Leben des Karlheinzle. Der Waggi vergisst diesen Tag, an dem Nürnberg in Schutt und Asche gebombt wird, sein ganzes Leben lang nicht. Die Erwachsenen meinen, ein Dreikäsehoch von nicht einmal drei Jahren könne sich außergewöhnliche Ereignisse nicht merken. Der Waggi erinnert sich mit seiner Klugheit ganz genau an diesen Tag, wenn auch seine Klugheit eine andere ist als die vermeintliche Weisheit der Alten. Sein Wissen beschäftigt sein Gehirn ebenso, wie die „Klugheit der Dummheit“ die Gehirne der Mächtigen entartet.

 

In jener Nacht hört der Waggi das monotone Brummen über Hauxdorf genauso wie die Erwachsenen und die Mama weiß, dass das Brummen und Dröhnen von sogenannten Tieffliegern erzeugt wird, die gen Nürnberg fliegen. Sie hat nasse Augen. Die Mama sagt, ihre Augen schwitzen. Da lernt der Heinzi, dass es nicht nur Gutes unter den Menschen gibt, wo ihm doch die Mama und der Dadda nur Gutes gelernt haben. Die Beiden schweigen und in diesem Moment der Trauer will der Heinzi auf den sicheren Schoß der Mama. Er klammert sich an ihre Schürze

 

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Um fünf Uhr in der Frühe ist die Nacht für die Resl zu Ende. Sie steigt mit ernster Miene und Übles ahnend vom Schlafzimmer die Holztreppe zur Küche hinab. Das Feuer im Herd muss neu angefacht werden. Die Kienspäne brennen rasch und sie legt einige Scheite Holz auf. Dann setzt sie das Wasser für den morgendlichen Kaffee auf den Herd. Eine halbe Stunde später kommt der Hans.

 

„Guten Morgen Resl“ – „Guten Morgen Hans“ – Schweigen.

Dann spricht der Hans aus, was die Resl schon geahnt hat: „Das müssen ja Hunderte von Fliegern gewesen sein, heute Nacht“! Woher sie kamen, erfahren sie bestimmt im Laufe des Tages von „Welle England“; wohin sie flogen, ist ihnen klar. Womöglich gibt es auch eine Sondermeldung vom Propagandaministerium, denn das nahe Ende ist nicht mehr zu verheimlichen. Der Hans geht nach draußen, um die Wege in den Stall und die Scheune freizuschaufeln. Die Resl kümmert sich um das kleine und das große Vieh.

 

Es will überhaupt nicht hell werden, heute. Als schäme sich der neue Tag vor den irrsinnigen Machenschaften der kriegführenden Menschen. Oder will die Nacht nicht weichen, weil sie die schweren Sünden der Mächtigen gerne zudecken möchte? Auch beim Frühstück wird wenig geredet. „Hoffentlich ist der Ami schneller als der Russ’“, sinniert der Dadda. Die Mama hat die leisen Worte verstanden. „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende“ entgegnet sie ebenso leise. Nur das Ticken des großen Regulators an der Wand durchdringt die Stille. Um sechs Uhr läutet der Sepp zum Morgengebet. Die Mama redet nach dem „Ave Maria“ als Erste wieder, um den Hans auf andere Gedanken zu bringen: „ Der Sepp wird ganz schön ins Schwitzen kommen, wenn er täglich mehrmals mit seinem Holzfuß durch den meterhohen Schnee zum Glockentürmchen hinaufsteigen muss“.

 

Und heute will er überhaupt nicht zu läuten aufhören. Aus dem Gebetsglöckerl wird die Totenglocke. „Ist hoffentlich Keiner gestorben im Dorf, heute Nacht“, überlegt die Mama laut. „Gewiss nicht“, beschwichtigt sie der Dadda. Wieder langes Schweigen. Dann redet der Hans doch noch über die schrecklichen Bomber von heute Nacht. Er war vorhin auf dem obersten Heuboden im Stadel und hat Schreckliches gesehen. „Nürnberg muss ein einziges Flammenmeer sein“, sagt er kummervoll. Der Feuerschein erhellt den Horizont, sie kann sich vom Dachboden des Hauses aus ja selbst überzeugen. Wie wird es der Maria, dem Hans seine Schwester und dem Waggi seine Oma, wohl ergangen sein? Und der Frieda und dem Annemariechen, dem Heinzi seinem Schwesterchen? Der Hans will später zum Bürgermeister hinab, wo das einzige Telefon des Dorfes ist. Vielleicht bekommt man eine Verbindung zur vernichteten Stadt.

 

Die Resl steigt zum Schlafzimmer empor. Der Waggi schläft heute aber lange. Als sie in die Stube tritt, schlägt der Kleine die Augen auf. Sie nimmt ihn auf den Arm und herzt ihn ab. Dann steigt sie mit dem Kind eine Treppe höher – wo der Saatweizen und die Hutzeln liegen. Von dort aus führt eine Leiter noch weiter hinauf in den Spitzboden. Hier oben war der Waggi überhaupt noch nicht. Den Lochmäßigen, kleinen Mauerdurchlass an der Giebelseite des Hauses kann man gar nicht als Fenster bezeichnen. Nicht einmal den Kopf kann man durchstecken! Dafür kann man über das ganze Dorf und über den Wald schauen – ganz weit! Der Mama ihre Stimme klingt so eigenartig abgehackt, wie sie dem Waggi den Feuerschein zeigt. „Da hinten liegt Nürnberg“, erklärt sie dem Steppke. Die brennende Stadt ist weiter weg als Weiden. Das weiß der Waggi. Und wenn die Mama nach Weiden fährt, ist sie den ganzen Tag unterwegs. Also muss der glutrote Schein, der aussieht als ginge die Sonne auf, mehrere Tagesreisen weit weg sein. Als die Mama von ihren Sorgen um die Oma, die Mutti und das Annemariechen spricht, macht es ihn nicht traurig. Er hat ja seine Mama! Und die ist bei ihm. Und drunten in der Wohnküche ist der Dadda und der Kare und das Mariechen und da ist es angenehm warm. Hier oben ist es bitterkalt und die Mama hat schon wieder ganz nasse Augen. Bestimmt hat ihr der böse Wind etwas Schnee darein geweht – oder?

Der Kare hat seinen Milchkaffee schon getrunken. Im gefällt es, dass die großen Sommerferien diesesmal gleich bis nach Weihnachten und Neujahr dauern. Und er führt mit dem Mariechen ein Streitgespräch. Sie kommt heuer schon in die Sonntagsschule, was einer Haushaltsschule oder Berufsschule gleichkommt. Aber mehr als der Kare weiß sie auch nicht, wo der doch erst in die dritte Klasse geht. Die Maria behauptet, das Brummen und das Dröhnen heute Nacht wäre von einem Geschwader „Fieseler- Störche“ gekommen. So ein Blödsinn, die einmotorigen Fieseler- Flugzeuge winseln nur- wie im Sommer die Libellen über dem Dorfweiher. „Der Kare hat schon Recht“, mischt sich da der Heinzi ein. Wie bitte? Dieser Hosenscheißer will auch mitreden? Da erzählt der Waggi voll Stolz, was er heute am frühen Morgen vom Dachboden aus gesehen hat. Da saust der Kare auch schon aus dem Zimmer und das Mariechen hat Niemand mehr, mit dem sie debattieren kann.

 

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Die Verbindung in die zerstörte Stadt kommt nicht zustande. Pausenlos dreht der Bürgermeister an der verschnörkelten Kurbel des Telegrafenautomaten. Bis nach Erbendorf ist die Leitung frei, aber das Postamt bekommt keinen Anschluss nach draußen. Nur das eintönige Tuten des Belegszeichens ist zu vernehmen. Die quälende Ungewissheit bleibt. Wenigstens hat es zu schneien aufgehört.

 

Da kommt plötzlich die Frieda. Gott sei Dank, sie lebt. Und das Annamirl, wie man hierzulande die Annemarie nennt, lebt auch! Sie wird an der Hand der Mutti geführt und die Zwei kamen mit der Eisenbahn. Einen schäbigen Pappkoffer trägt das Mädel, und die Mutti berichtet von der fürchterlichen Katastrophennacht. Das Annamirl soll hier bei der Tante Resl und dem Onkel Hans bleiben, bis sie übernächstes Jahr eingeschult wird. Wo doch dem Reserl und dem Luggi ihre Bettchen zurzeit nicht benützt werden.

 

Die Oma, dem Hans seine Schwester, lebt ebenfalls noch. Aber den gefallenen Karl seine ganze Verwandtschaft ist bis auf eine Schwester ausgelöscht. Sie verbrannten im Luftschutzkeller, wie Tausende anderer Nürnberger auch. Schrecklich! Die Frieda will gleich wieder zurück in die Hölle, denn sie will ihre Mutter nicht alleine lassen. Die Mutti wohnt nun zusammen mit der Oma in deren kleinem Häuschen außerhalb der Stadtmitte, seit die ersten Bomben vor drei Jahren das Geschäftshaus in der Innenstadt zerstörten.

 

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Auch der schneereichste Winter geht einmal zu Ende; auch der grausamste Krieg wird einmal beendet. An dem Annamirl Ihrem vierten Geburtstag erschießt sich der satanische Führer in seinem Bunker in Berlin. Der Erbendörfer Bürgermeister lässt noch schnell ein paar junge Männer an die Kirchenmauer stellen und erschießen, die dem Krieg zu schnell davonliefen. Einige Tage später kapituliert das geschundene deutsche Reich. Zum höchsten Punkt des Steinwaldes ist der Ami aufgefahren. Der schießt mit größeren Kalibern als das Standgericht. Die Panzer der Befreier schießen nicht nur bis Erbendorf hinein, sondern sogar darüber hinweg. Bis nach Hauxdorf! Gott sei Dank treffen sie nur den Backofen und den Lindenbaum in der Dorfmitte. Als Erster hängt der Hans ein weißes Betttuch über das Dachfirst von Haus Nummer neun und die anderen Dorfbewohner machen es ihm nach. Die Menschen atmen auf.

Einige Nazischergen und der Gauleiter von Erbendorf haben sich nicht schnell genug von ihren Uniformen trennen können. Denen ergeht es ebenso wie den jungen Soldaten einige Tage vorher; mit dem Unterschied, dass sie mit amerikanischer Munition exekutiert werden. Dem Bürgermeister legen die Ami einen Strick um den Hals, er soll ja sein Ende genießen! Ob ein langsamer Tod ein schönerer Tod ist? Aber der Mörder hat Glück im Unglück. Der Pfarrer übersetzt den Boys aus Amiland den letzen Willen des Bürgermeisters und versichert ihnen, dass der Ortsvorsteher kein Nazi ist und niemals einer war. Während des Palavers gelingt es dem Richter von eigenen Gnaden, abzuhauen. Ob er in diesen Moment an den lieben Gott oder an einen Schutzengel glaubt, hat man nicht erfahren. Und der Bazi hat es niemanden erzählt. Auch in späteren Jahren nicht.

 

Die Zeit bleibt nicht stehen und das Leben geht weiter. Die Kinder gehen wieder regelmäßig zur Schule in den Wirtshaussaal. Der Kare ist begeistert. Einmal bringt er Kaugummi mit, ein andermal Schokolade. Und er erzählt von Männern, die schwarz sind wie dem Nachbarn sein Hofhund. Der Waggi staunt! Und der Kare will es noch besser erklären: „Wie die verbrannten Erdäpfel im Kartoffelfeuer schauen sie aus“, sagt er. Und der Kare lügt nicht. Von wem sollte er es gelernt haben?

 

Die Mama erzählt dem Waggi die Geschichte von den zehn kleinen Negerlein. „Und wenn ein kleines Negerlein groß ist, dann ist es eben ein Neger – und keine schwarze und verbrannte Kartoffel“, erklärt sie den Kindern und schaut dabei den Kare vorwurfsvoll an.

 

Im Sommer gehört das Dorf wieder den Kindern. Unter dem Lindenbaum werden sich die neuesten, spannendsten Geschichten erzählt. Der Backofen bekommt ein neues Dach und man kann darinnen prima Verstecken spielen. Zum Wochenende wird Brot gebacken. Wenn im Backofen das Feuer brennt, dann ist das beinahe so aufregend wie wenn eine Sau abgestochen wird. Alle vier Wochen rührt der Dadda in einem großen Trog den Teig zusammen, der auch beim Schweine schlachten benützt wird. Der Waggi darf da helfen und die Laibe mit zum Backofen tragen. Und die Mama freut sich, wenn der Heinzi ausschaut, als wäre er in den Teig gefallen. Ein kleines Schweinchen ist der Waggi – aber kerngesund! Schließlich achtet die Mama auf gesunde Kost und Wohlergehen.

 

Manchmal gibt es auch Tränen: Wenn das Annamirl ihre Puppe dem Waggi auf den Schädel haut, weil dieser partout keinen Platz in der gemeinsamen Blechbadewanne machen will. Der kleine Schmerz ist schnell vergessen, wenn anschließend der Waggi auf der schönen gefleckten Kuh, der Fanny, reiten darf. Das Karlheinzle hat überhaupt keine Sehnsucht nach der Mutti in der großen Stadt. Und wenn sie zu Besuch kommt, bringt sie jedes Mal ein wunderschönes Modellauto aus lackiertem Blech mit. Er hat ja so viele Freunde und Freundinnen in Hauxdorf; das ist doch pfundig, oder? Doch der beste Kumpel bleibt der Kare mit dem Glasauge. Die Beiden sind ein Herz und eine Seele. Wenn die Resl- Mama zum Beerensuchen zum und Kräutersammeln in den hohen, rauschenden Tannenwald geht, begleiten sie nicht nur der Heinzi- Waggi und der Glasaug- Kare, sondern auch der Rotschopf- Luggi, das Puppen- Annamirl und die schon erwachsene Maria vom Onkel Christian. Der Kare weiß alle wichtigen Sachen! Er kennt die Namen der verschiedenen Käfer und nennt die Vögel beim Namen. Er kennt den Unterschied zwischen einer Blindschleiche und einer Kreuzotter und kann zwischen Knollenblätterpilz und Wiesenchampignon unterscheiden.

Wenn der große Kare und der kleine Heinzi im alten Sautrog über den Löschweiher der Feuerwehr paddeln, unterrichtet der Spezi dem Waggi von den Gewohnheiten der Frösche, Unken, Kröten und Libellen und von dem Flug der Schmetterlinge und Falter. Der Kare fangt auch Maulwürfe! Für jedes Fell bekommt er vom Kürschner in Erbendorf eine Mark. Das ist irrsinnig viel Geld! Und im Mühlbach der Kammerer- Mühle erwischt er die Forellen mit den bloßen Händen! Wenn der Kare in der Schule ist, nimmt der Dadda den Waggi mit in den Obstgarten oder er zeigt ihn die vollen Waben im Bienenhaus. Allabendlich darf der Liebling und ganze Stolz der Mama auf ihren Schoß sitzen und die Neuigkeiten, die er gelernt hat, erzählen.

 

Die Stube beim Hans und der Resl ist abends meistens voll. Wenn die Tage kürzer und die Nächte länger werden; wenn die Ernte unter Dach und Fach ist und die Zeit des Strohbänder- Bindens und des Pullover- Strickens näher rückt, häufen sich die Abende des „Hutzergehens“. Ein schöner, alter Brauch; wobei man sich im Dorf gegenseitig besucht. Da werden dann die Gänsefedern geschlissen, der Honig aus den Waben geschleudert oder die Schnitzbank in die große Stube gestellt. Man trifft sich beim Hart`l und beim Sepp und beim Gustl und beim Stefan oder beim Eugen. Die Familiennamen kennen sowieso nur der Tierarzt, der Doktor und der Postbote. Untereinander nennt man sich beim Hausnamen – und die sind für die Fremden meistens unaussprechbar, der Dialektik wegen. Die Ältesten im Dorf werden nicht mit “Du“ oder „Sie“ angeredet; die spricht man mit „ihr“ oder „Euer“ an. Die Alten sind Respektspersonen! Da heißt es dann: „Gonnerhansl- Mutter, Euer Rock hat a Loch“ oder: „Gilch- Vater, ihr müsst schnell kommen, unsere Kuh kalbt!“; und so weiter. Da wird nicht nur gelehrt, du sollst Vater und Mutter ehren, da wird nach Gottes Geboten gehandelt. Das christliche Zusammenleben verhindert aber nicht, dass die jungen und heiratsfähigen Mädchen und Burschen manchmal der Hafer sticht! Wenn der Eugen zum Hans und zu der Resl hutzergeht, sticht das Mariechen gleich ein ganzes Haferfeld. Das soll zwar verheimlicht werden, aber wenn der Eugen da ist, bekommt sie eine auffallend gesunde Gesichtsfarbe und der Eugen möchte immer neben dem Mariechen Platz nehmen. Einmal sieht der Waggi tatsächlich, wie der Eugen unter dem Tisch der Maria ihre Hand hält. Da sagt der Lauser zum Glotzaugen- Eugen, er solle das Mariechen loslassen. Da bekommt der Eugen die gleiche gesunde Gesichtsfarbe wie vorher die Maria. Und diese springt auf und will dem Waggi eine Watsch`n auf sein vorlautes Mundwerk geben. Alle lachen und der Waggi sitzt sicher auf der Mama ihre Schoß. Ja ja, die heimliche Liebe ist die schönste Liebe!

 

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Die Frieda hat geschrieben. Die Mutti aus der großen Stadt meldet ihr Kommen an. Diesesmal muss sie kein Kind in Sicherheit bringen, wie die letzten Male. Das brave Karlheinzle hat Geburtstag und wünscht sich von ihr ein Feuerwehrauto. Das brave Annamirl freut sich, weil sie mit der Mutti wieder nach Nürnberg darf. Sie soll nächsten Monat zur Schule gehen.

 

Die Mutti kommt nicht mit dem Fahrrad und nicht mit der Eisenbahn. Sie kommt mit dem Auto – und mit dem Onkel Fritz!

 

Die Kinder von Hauxdorf umringen das Vehikel. Ein richtiges Auto kommt ganz selten ins Dorf. Sogar der Tierarzt und der Doktor kommen nur mit dem Motorrad. Und der Herr Pfarrer kommt zu Fuß, wenn er die Beichtzettel einsammelt.

Die Mutti erzählt, dass sie mit dem Onkel Fritz ein neues Häuschen gebaut hat. Die benötigten Backsteine haben sie von den Trümmern in der Stadt gesammelt und der Bauplatz wurde von der Oma ihrem großen Garten abgezweigt. Die Nachbarn und die Oma haben der Mutti und dem Onkel Fritz fleißig geholfen. Der Oma ihr Garten ist nun etwas kleiner, aber die Pläne der Frieda sind umso größer. Sie will wieder ein Geschäft aufbauen. Und der Onkel Fritz unterstützt sie in jeder erdenklichen Lage und es soll keine Konditorei und kein Caféhaus mehr entstehen, wie vor dem Krieg. Der Onkel Fritz will eine Tankstelle bauen, denn er handelt mit Rohöl und mit Schmierstoffen. Der Waggi meint, ein Schmierstoff sei ein Stück Seife, deshalb sei der neue Freund der Mutti Seifenhändler. Aha, deshalb riecht sie immer so gut und ist so sauber. Bei den Dörflern ist die Frieda eine angesehene Weibsperson und eine feine Dame. Das weiß auch der Waggi, dass die Mutti eine schöne Frau ist. Als ob die Mama nicht schön sei! Und ein Bussi von der Resl- Mama ist dem Heinzi lieber als ein Küsschen von der Mutti – und bei der Mama wischt er sich auch nicht nach jedem Küsschen mit dem Hemdsärmel über den Mund.

 

Der Herbst zieht ins Land, wieder brennen die Kartoffelfeuer. Der Waggi darf mit dem Kare zum Kühe hüten auf die Weide. Da hat man viel Zeit, solange kein übermütiges Rindvieh davonläuft. Der Kare erklärt dem Waggi, wie die Wolken entstehen, warum der Backofen vom Dorf einen so hohen Kamin braucht und warum es im Sommer regnet und im Winter schneit. Das Wichtigste und Interessanteste ist aber die Herstellung eines Pfeiferls. Das wird aus einem Weidestöckchen gemacht und man kann darauf schöne Melodien spielen. Der Kare hat so ein Pfeiferl einmal sogar mit vier Löchern geschnitzt und das kann nur er!

 

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Schwarze Trauerwolken werden bald den weißblauen Himmel über Hauxdorf verdunkeln und die Glückseligkeit von Haus Nummer Neun überschatten. Der Sommer war heiß; einige Male holte Maria verängstigt die geweihten Kerzen und zündete sie an, wenn ein Unwetter mit Hagelschlag einen Teil der Ernte vernichtete. Der Blitz schlug öfter ein, im Dorf auf der Höhe. Meistens in die Scheune und dann, wenn das Getreide schon eingeholt war.

 

In der großen Stadt war der Schwager vom Dadda gestorben. Die Erntearbeiten erlaubten es nicht, dass die Mama und der Dadda zusammen zur Beerdigung fuhren. Man einigte sich, dass die Resl die traurige Aufgabe übernahm und der Waggi mitfahren durfte.

 

Ganz finster war es noch, als sie in die kleine Bimmelbahn stiegen, die Erbendorf mit der Schnellzugstation in Reuth verband. Da staunte der kleine Mann, als er das fauchende und rauchende Ungetüm mit den großen Rädern erblickte. Die Mama hielt ihn besonders fest an der Hand. In der großen Stadt kam der Waggi überhaupt nicht mehr aus dem Staunen heraus. Zum erstenmal sah er ausgebrannte Häuser und Ruinen von Kirchen und viele Autos und noch mehr Menschen. Überall gab es kleine Schutthalden und man musste über schmale Steige gehen, um zur Straßenbahn zu gelangen. An der Endstation wartete schon der Omnibus und die Mama mit dem Waggi fuhr ins Knoblauchsland außerhalb der Großstadt. Da wohnten die Mutti und die Oma. Das größere Gartenhäuschen, das sich die Mutti nach ihren Erzählungen gebaut hatte, war ein schickes Einfamilienhaus. Die Begrüßung blieb verhalten. Ganz in schwarz war die Mutti gekleidet, sie trauerte ja um ihren Vater.

Den Waggi interessierten die Probleme der Erwachsenen nicht. Die Mutti hatte ihm eine tolle Eisenbahn im Wohnzimmer aufgebaut. Die fuhr immer nur im Kreis herum und das war auf Dauer langweilig. Die Zimmer waren sehr schön eingerichtet und alle Möbel waren neu. Trotzdem wäre der Waggi jetzt lieber in Hauxdorf beim Kare gewesen. Auch der bunte Stoffkasper, den ihm die Mutti von der Stadt mitbrachte, konnte das Karlheinzle nicht trösten. Das schöne Kasperle war nämlich nur für die Erwachsenen schön; für den Waggi sah er hässlicher aus als die Vogelscheuche auf dem Kirschbaum vom Dadda.

 

In einen unbeobachteten Augenblick entwischt der schlaue Heinzibubi mitsamt dem hässlichen Stoffkasperle ins Aborthäuschen, das als Anbau erstellt ist. Schnell ist der Stinkstiefel entsorgt und Niemand kann ihn mehr retten. Es handelt sich nämlich um ein Trockenklosett. Und da schwimmt der „schöne“ scheußliche Kasper in der stinkenden Brühe und glotz herauf wie ein Frosch aus dem Tümpel. Er streckt seine Hände, weit auseinandergespreizt, in die Höhe und dem Waggi ist nicht ganz geheuer, wie er dem absaufenden Stoffheini in die weit aufgerissenen Augen schaut. Er meint, er rufe um Hilfe. Schon bald vermisst die Mutti das bunte Kunstwerk und erfährt zu ihrem Entsetzen, dass das Kasperle nun schwimmen lernt. Ein Schrei aus ihrer Kehle! Und da sie die Hand drohend schwingt, flüchtet ihr Karlheinzle in den Schoß der Mama, die schützend ihre Hände um ihn legt. Die Mama schimpft nicht, der Waggi meint, sie lächelt.

 

Die Frieda rennt zur Toilette und überzeugt sich, dass das Kasperle im Sterben liegt. Die schöne blaue Jacke ist braun verfärbt und die goldene Hose ist grün wie frische Kuhfladen. Das rosa Gesichtchen hat viele Sommersprossen bekommen.

 

„Dieses Unkind – dieser verzogene Fratz“, hört man die Frieda rufen. So aufgeregt hat der Waggi die Mutti noch nie gesehen. Sie weiß auch eine Neuigkeit: „Jetzt kann das Karlheinzle nimmer aufs Klo und AA machen, weil ihn der Kasperle sonst in den Popo beisst“. Hat sich der Waggi doch gleich gedacht, dass der scheußliche Mistkerl eine Hinterfotzigkeit im Schilde führt. Dem scheißt er was und macht seinen AA ganz einfach in die Hose. Die Frieda ist einer Ohnmacht nahe!

 

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Den Opa hat man eingegraben, das Kasperle vergessen.

 

Die Frieda sitzt mit der Resl im Wohnzimmer, während der Waggi mit der Eisenbahn spielt. Die beiden Frauen sprechen über den Verstorbenen und dessen zwei von drei Söhnen, die im Krieg – wie Friedas Mann - gefallen sind. Nun hat die Mutter auch ihren Mann verloren. Kismet! Plötzlich wird die Frieda sehr traurig – sie weint.

 

„Tante Resl“, sagt sie: „Das Karlheinzle kommt im September zur Schule; ich will, dass du und der Onkel Hans den Buben weiterhin im katholischen Glauben erzieht. Du weißt ja, dass ich bei der Heirat mit Karl konvertiert bin und unsere Kinder alle evangelisch getauft wurden. Sollte mir einmal etwas passieren, soll der Bub’ bei euch bleiben und ihr sollt ihn zur Erstkommunion schicken“. Sie nimmt der Resl ihre Hand und drückt sie ganz fest. „Versprich mir das“, bekräftigt die Frieda ihren eigenartigen Wunsch. Sie spricht über den Glauben, über Konfessionen und über den Tod, mit dem sie ja schon reichlich Bekanntschaft schließen musste. Das Schicksal geht oft sonderbare Wege.

„Aber Frieda“, entgegnet die Resl erschrocken. „Du bist doch erst sechsunddreißig Jahre alt und sprichst schon vom Sterben!“ Die Frieda wischt sich ihre Tränen ab und wird noch komischer. Am Ende ihrer visionären Rede meint sie, dass kein Mensch weiß, was der Herrgott vorhat und dass Er schon lange vor uns weiß, was das Richtige für uns ist. Das Annemariechen ist ja bei der Oma in guten Händen, wenn die Mutti in nächster Zeit viel unterwegs ist, um den neuen Betrieb aufzubauen und zur Schule hat das Mädchen auch nicht weit zu gehen.

 

Beim Abschied weint die Mutti wieder und drückt den Waggi ganz fest an sich. Das hat der Junge noch nicht gesehen, dass die Mutti weint. Ob ihr wohl der grausame Tod des Kasperles so nahe gegangen ist? Er verspricht ihr, in Zukunft ganz brav zu sein und die Mama nicht zu ärgern.

 

Vier Monate später redet Niemand mehr über den Besuch in der großen Stadt. Alle haben, wie immer, viel arbeiten müssen. Zu dem üblichen Tagwerk kam hinzu, dass der Gonnerhansl am Ende von Hauxdorf einen neuen Heustadel errichtet. Und das ist nur in Gemeinschaftsarbeit der Dorfbewohner möglich. Auch der Dadda hilft mit. Die Dorfkinder stehen im Halbkreis und im gebührenden Abstand herum und sehen zu, wie die Zimmerleute den Firstbalken einsetzen. Der Maurerpolier nagelt den Richtkranz an die höchste Stelle, damit man ihn bis in den Steinwald hinauf sieht. Der Waggi hat vor drei Tagen seinen sechsten Geburtstag gehabt und von der Mutti ist ein großes Paket mit einer Glückwunschkarte angekommen. „Meinem lieben Karheinzle zu seinem sechsten Geburtstag“ hat sie daraufgeschrieben und die Mama hat es vorgelesen. Die vielen Leckerein haben sich der Kare und der Heinzi in die Hosentaschen gesteckt und verteilen sie an die Freunde und Freundinnen. Die Schokolade ist schon ganz weich, an diesem heißen Augusttag.

 

Der Polier sagt sein Gedicht und schreit dann „Prost“. Die Erwachsenen freuen sich über das Gelingen des Bauwerks und der Dadda kommt zum Kare und zum Waggi und lässt sie zur Feier des Tages aus der Bierflasche trinken. „Aber nicht zu viel“, scherzt er, „damit ihr keinen Rausch bekommt“.

 

Dann sehen sie die Resl daherrennen und der Dadda ruft ihr entgegen, sie solle nicht so schnell laufen, weil das Bier sowieso schon eine warme Brühe ist.

 

Die Mama weint und schluchzt und ist nicht fähig, ein Wort zu sagen. Immer wieder wischt sie mit dem Schurz über ihr Gesicht. Der Hans eilt ihr entgegen und stützt sie. „Sag doch endlich, was passiert ist“, drängt er sie, „ist eine Kuh verreckt oder ist wer gestorben?“ Die Mama hat einen Weinkrampf und die Zimmermänner und die Mauerer stehen herum und Keiner schreit mehr „Prost“ oder lacht.

 

Dem Waggi schmeckt die Schokolade nicht mehr. Er will jetzt auf den Arm der Mama genommen werden. Aber die liegt selbst, herzzereissend weinend in den Armen des Dadda. Die Umstehenden fragen sie ständig, was den Schlimmes passiert sei. Vielleicht ist das Mariechen verunglückt oder was sonst noch? Nur vier Worte bringt die Mama zustande: „Die Frieda – die Frieda“!

 

Alle kennen dem Waggi seine Mutti, die vornehme Frau aus der großen Stadt. Endlich redet die Mama wieder: Der Bürgermeisterbub war heroben und hat erzählt, dass dem Heinzi seine Oma angerufen hat. Er solle dem Hans und der Resl ausrichten, dass die Frieda gestorben sei. Niemand will es fassen!

Abends weint die Mama immer noch. Ganz rote Augen hat sie. Der Waggi weint nicht. Das kann die Mama nicht begreifen. Ein paar Mal sagt sie: „Heinzi, die Mutti ist tot, da musst du doch auch weinen!?“ Aber der flüstert immer nur: „Mama, höre doch bitte zu weinen auf“. Warum sollte er weinen? Seine Mama lebt doch und die soll bitte nicht mehr heulen.

 

Diesesmal reist der Hans nach Nürnberg. Das Grummet und das Frühgetreide muss eingefahren werden. Er solle gleich nach der Beerdigung wieder kommen, legt ihm die Resl nahe. Sie ängstigt sich, dass dem Ehemann etwas zustoßen könnte. Der Dadda ist noch stiller geworden als sonst. Das heißt, dass er fast überhaupt nichts mehr spricht. Die Resl solle sich keine unnötigen Sorgen, sagt er beim Abschied. Trauer lastet auf Haus Nummer Neun in Hauxdorf. Auch die Maria und der Kare reden weniger als an anderen Tagen und streiten nicht. Der Waggi weicht keinen Schritt von der Mama und geht selbst in den Stall zu den Kühen melken mit ihr. Rolfi, der Hofhund ist auch traurig, meint er, weil er weniger bellt als sonst.

 

Die Zeit heilt Wunden und Kinder vergessen das Leid schnell, sagt man. Der Waggi ist aufgeregt, weil morgen sein erster Schultag ist. Einen neuen Pullover und eine neue Hose hat er bekommen. Für neue Schuhe reicht das mühsam Ersparte nicht. Er erinnert sich noch gut daran, wie die Mama vor kurzer Zeit heimgekommen ist und zwei neue, grüne Geldscheine auf den Tisch gelegt hat. Vierzig Deutsche Mark hat man ihr für die alte Reichsmark gegeben. Von Währungsreform hat die Mama mit dem Dadda geredet.

 

Der Heinzi ist stolz auf seinen neuen Schulranzen mit der Schiefertafel und dem Griffelkasten darinnen. Am ersten Schultag geht die Mama mit zum Fräulein Lehrer. Am zweiten und den folgenden Tagen passen der Kare und die größeren Kinder auf den Erstklässer auf. In Erbendorf kann man täglich aufregende Sachen erleben. Einmal explodiert ein Holzvergaser, ein andermal sieht er einen Panzer und am nächsten Tag schaut ihn ein „schwarzer Neger“ aus einem Jeep heraus an. Fast jeden Tag drückt ihn die Mama ein blaues Papier- Zehnerl in die Hand, wovon er sich eine Kugel Eis kaufen darf. Das Pausenbrot wird in Zeitungspapier eingewickelt und zu Hause muss man die neuen Schuhe und die schönen Sonntagskleider wieder ausziehen. Dem Waggi gefällt die Schule. Schnell vergeht ein Jahr.

 

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Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Auf dem Hof herrscht emsiges Treiben. Vom Aschenhof ist Grünbauer da. Der ist Tischler. In der Werkstatt hinter dem Haus hört man von früh bis spät ohne Unterlass sein bohren, sägen, hämmern, schleifen, fräsen und schimpfen. Oben in der ersten Etage ist der Maria ihre Kammer plötzlich zugesperrt und das Mariechen schläft von einem Tag zum anderen wieder bei ihren Eltern unterhalb des Dorfes. Alle tun so geheimnisvoll; und der Dadda hat gesagt, dass nächste Woche eine Sau abgestochen wird. Wo es doch mitten im Sommer und nicht klirrende Novemberkälte ist! Schlachttag ist jedes Jahr kurz vor dem Nikolaustag.

 

Die Mama hat das Strickzeug mit der Nähmaschine gewechselt. Sie näht Kleider und Schürzen und Bettbezüge und sonst noch allerhand. Der Kare bindet bunte Bänder um den Leiterwagen und sagt dem Waggi nicht, warum er das tut. Und der hält es vor Neugierde nicht mehr aus!

Die Mama macht den Waggi noch neugieriger. Sie erzählt ihm, dass sie beim Fräulein Lehrerin war und dass er nächste Woche zwei Tage schulfrei hat. Wenn die Mama schon „a“ sagt, muss sie auch „b“ sagen. Das seien ihre eigenen Worte, drängt sie der kleine Mann.

 

Da nimmt die Mama den Waggi bei der Hand und steigt mit ihm die knarrende Holztreppe hinauf, wo Mariechens Kammer ist. Sie tut ganz feierlich, als stünde das Christkind hinter der Türe. Sie steckt den Schlüssel ins Schloss und dreht einmal, zweimal um. „Aaaaah“ staunt da der Waggi und seine Kinnlade fällt herunter. So ein schönes Schlafzimmer hat er noch nie gesehen; und alles Andere, das fein säuberlich gestapelt ist, funkelt und glitzert und ist so herrlich neu! Und über der Kommode ist ein geschliffener Spiegel angeschraubt und ganz viel Wäsche liegt schön verpackt im Zimmer herum. Die Mama hebt den Finger, wie es die Lehrerin macht, wenn sie „Aufgepasst“ ruft. Die Mama redet ganz leise, als spräche sie ein Geheimnis aus: „Die Maria heiratet“! Dass eine Bauernhochzeit ein ganz großes Fest ist, weiß der Waggi.

 

„Die Maria heiratet einmal den Eugen“, waren die Leute im Dorf bisher überzeugt. Aber bei den Beiden muss etwas schiefgelaufen sein. Auf Eugens Haus steht an Marias Polterabend ein alter Kinderwagen. Darinnen sitzt eine Strohpuppe, die den Eugen darstellen soll. Der Stroh- Eugen hat einen schwarzen Zylinder auf den Kopf und weiße Handschuhe an. Von ganz oben, vom Dachfirst aus, schaut der Strohkopf herab. Die komplette Dorfgemeinschaft steht vor dem Hoftor und amüsiert sich über den gelungenen Jungenstreich. Logisch, dass der Eugen nicht erfährt, wer ihm diesen Schabernack gespielt hat und er muss sich mächtig plagen, das Gefährt wieder herunter zu holen.

 

Vor der Hausnummer Neun wird der Kammerwagen aufgeladen; und die Kühe, die ihn ziehen werden, bekommen ihre bunten Papierbänder umgehängt. Die Kinder haben am Dorfausgang ein Seil gespannt, denn da wird der Wagen mit dem Mariechen ihrer Aussteuer angehalten. Der Bräutigam wird den Jüngsten aus der Dorfgemeinschaft eine oder zwei Hände voll Münzen herunterwerfen und der Weg wird wieder frei gegeben. Dann verlassen die Jungvermählten das Dorf und die Maria wird als Frau Hinz oder Frau Kunz und als die neue Bäuerin auf dem Hof des Hochzeiters einziehen. Erneut steht ein Zimmer beim Hans und der Resl leer und nun sind nur noch vier Personen im Haus: Der Dadda, die Mama, der Karl und der Heinzi.

 

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Man merkt, dass die Maria fort ist. Nicht deshalb, weil es ruhiger geworden ist, sondern deshalb, weil eine Arbeitskraft fehlt und die Arbeit deswegen nicht weniger geworden ist. Da ist es von Vorteil, dass der Kare die Schule absolviert hat und fest mit zupacken kann. Der Kare ist eine unbezahlbare Hilfe und der Dadda und die Mama wissen, dass der Karl ein fleißiger Junge ist. Er darf von seiner Kammer über dem Misthaufen in der Maria ihr leeres Zimmer ziehen und bekommt anstelle des Strohsacks ein weiches und molliges Daunenbett.

 

Und außerdem ist der Waggi ja auch kein kleines Kind mehr. Übers Jahr darf er zur Heiligen Erstkommunion und er ist stolz, wenn ihm der Dadda oder die Mama mit kleinen, aber wichtigen Arbeiten beauftragen.

Der Hans und die Resl freuen sich, dass der Waggi so gute Zeugnisse mit nach Hause bringt. Der Lehrer Baumann meint, sie sollen den Buben nach der Firmung nach Weiden ins Gymnasium schicken. Aber da haben die Bauersleute Bedenken. Nicht wegen dem Waggi, dass er die höhere Schule nicht meistern würde, nein. Aber so eine bessere Schule kostet Geld. Und das hat beim Hans und der Resl keine Hütchen auf. Die kleine Landwirtschaft und der große Obstgarten sind eine karge Einnahmequelle und sind nur zum eigenen Lebensunterhalt vorgesehen.

 

Der Lehrer Baumann weiß, dass der Heinzi Vollwaise ist und daher Anspruch auf eine Waisenrente hat. Der Hans solle sich einmal beim Vormundschaftsgericht in Nürnberg erkundigen. Der Dadda sagt, dass das noch nicht pressiert, weil der Waggi erst zur Erstkommunion gehen soll, dann fahre er schon hinaus nach Nürnberg.

 

Es sollte Alles ganz anders kommen als geplant. Das Leben geht seinen gewohnten Gang, der Heinzi weiterhin nach Erbendorf zur Schule und das Schicksal schlägt meistens unvorbereitet zu.

 

Eines schönen Tages geht die Mama mit dem Waggi zum Pfarrhof. Sie erzählt dem Herrn Hochwürden vom letzten Willen der Frieda aus der großen Stadt und dass der Waggi genaugenommen evangelisch ist, weil er so getauft wurde. Woher soll der Pfarrer das auch wissen; die Resl und der Hans haben das Kind ja schon kurz nach dessen Geburt bekommen. „Ja ja, der Krieg“, meint der Geistliche und ist dem Himmel und der Resl dankbar, dass sie mit dem schwerwiegenden Problem zu ihm gekommen ist. Das wäre ja beinahe einer Todsünde gleichgekommen, einem protestantischen Kind das Sakrament der Heiligen Erstkommunion zu spenden! Halleluja! Danket dem Herrn! Der Waggi versteht immer nur „Bahnhof“ – also gar nichts. Er ist doch beim Benefiziaht ein fleißiger Schüler und soll nach der Kommunion sogar Ministrant werden. Die Therese soll sich am Sonntag nach dem Hochamt beim Herrn Pfarrer in der Sakristei einfinden. Der Resl- Mama fällt ein Stein vom Herzen, dem Pfarrer wahrscheinlich ein Felsbrocken.

 

Am Sonntag darf der Waggi sogar die neuen Schuhe anziehen, die er am Weißen Sonntag tragen soll. Das Matrosenanzügle, das noch der Onkel Fritz spendiert hat, ist zwar etwas zu groß, aber sehr vornehm! Der Herr Pfarrer erwartet die Mama und den Heinzi bereits und hat nicht einmal sein Messgewand ausgezogen. Er streichelt dem Waggi über den Kopf und schenkt ihm ein buntes Heiligenbildchen. Er erklärt dem Noch- Heidenkind, dass dies der Heilige Heinrich sei. Aber der Waggi heißt doch Heinz – sogar Karlheinz, protestiert dieser zaghaft. Und er fragt dem Herrn Pfarrer, ob er kein Heiligenbildchen vom Heiligen Heinz habe. „Den gibt es noch nicht“, lächelt der Theologe: „Der Name Heinz ist eine Ableitung von dem Namen Heinrich, kapiert?“ Der Waggi will aber kein Heini sein und wirft das schöne Bildchen nach der nun folgenden Prozedur in den Gully vor der Kirche.

 

Der Herr Pfarrer wird nun feierlich und erklärt der Mama, wie aus einem lutherischen Kind ein katholisches wird. Dann spricht er lateinisch oder böhmisch. Die Drei gehen in die leere Kirche hinaus, vor das Taufbecken mit dem Weihwasser. Der Petrijünger schmiert dem Waggi eine Salbe auf die Stirn und schüttet ihm das kalte Wasser über die Haare. Das Nass läuft dem Heinzi über die Schläfen in die Augen und der Herr Pfarrer fuchtelt mit den Händen herum und redet nur noch in einer fremden Sprache. Jetzt darf der Waggi mit reinem Gewissen und sündenfrei zur Heiligen Kommunion! Von der Mama erfährt er hernach, dass der Pfarrer lateinisch sprach und ihn segnete.

In der großen Stadt geht das Leben nach dem Tod des Opas und der Mutti seinen gewohnten Gang. Die Oma hat das Schicksal hart getroffen. Da hat sie die argen Kriegsjahre heil überlebt und ihr Häuschen ist nicht zerstört worden. Da hat sie unter vielen Entbehrungen das neue Haus für die Frieda mitgebaut und jetzt hat sie ihren Mann und ihre Tochter innerhalb eines halben Jahres zu Grabe tragen müssen. Das Leid hat sie gezeichnet. Tiefe Sorgenfalten durchfurchen ihr Gesicht. Drei Jahre nach Kriegsende ist das Schicksal von ihrem Sohn August immer noch ungewiss. Die Brüder Christian und Andreas sind im „Feindesland“ begraben. Der Gustl hat den letzten Brief aus Frankreich geschrieben, er sei dort in Gefangenschaft geraten. Hoffentlich kommt wenigstens er zurück, das wäre ganz gut für das Enkelkind, die Annemarie. Sie muss ja jetzt für das Mädchen der Frieda sorgen.

 

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Eines Tages steht ein fremder Mann vor dem Gartentürchen. Das Annemariechen kennt ihn nicht. Sie rennt ins Haus und holt die Großmutter. Die Maria umarmt ihren Sohn, der nun endlich doch noch heimgekehrt ist. Die Oma will den Gustl gar nicht mehr loslassen und die Annemarie erfährt, dass der große, spindeldürre Mann ihr Onkel August ist. Der hat natürlich viel zu erzählen! Zuerst haben ihn die Franzosen in der Normandie etwas aufgehalten und dann haben ihn die amerikanischen Besatzer am Rhein auch noch tagelang ausgefragt, da hat der Heimweg vom Krieg halt etwas länger gedauert. Die Annemarie lauscht den spannenden Geschichten des fremden Mannes. Das soll ihr Onkel sein? Also gut – ist doch schön, wenn man so schnell zu einem Onkel kommt. Der Onkel Gustl geht auch nimmer fort, verspricht er; nicht einmal zu seinem Eheweib. Er wollte seine Frau mit der freudigen Heimkehr überraschen und hat vorher nichts davon geschrieben. Die Warterei hat aber dem jungen Weibe zu lange gedauert und als der Gustl endlich seinen Familienpflichten wieder nachkommen wollte, lag der schwarze Jonny bei ihr im Bett. Der Boy verwöhnte dem Gustl seine Angetraute die vergangenen Jahre mit Nylonstrümpfen und Pulverkaffee und pulverte sonst noch viel in sie hinein, worauf sie lange warten musste. Dem Gustl macht das aber gar nichts aus; er ist ja mit gesunden Gliedern aus dem Krieg heimgekommen und er hat bei seiner Mutter ein Dach über dem Kopf, da findet er schon wieder eine Frau.

 

Der Gustl ist kein Faulenzer! Er hat das Mauerer- und Stuckgewerbe vom Vater erlernt und für diesen Berufszweig gibt es in der Nachkriegszeit mehr als genug zu tun.

 

Der Heimkehrer nimmt das vorhandene Motorrad vom verstorbenen Vater, erwirbt sich ein gebrauchtes Anhängerchen und belädt es mit zwei Sack Zement, Gips und Sand. Der Grundstein für das eigene Geschäft ist gelegt, denn Steine liegen ja genug herum, in der großen Stadt.

 

Nach zwei Jahren reicht das Motorrad mit Anhänger nicht mehr aus, die Aufträge zu erfüllen. Ein richtiges Lager mit Gerüstleitern, Brettern, einer Kalkgrube und zwei Mitarbeitern hat der August bereits. Da ist es für ihn ganz normal, dass er in das leerstehende Häuschen seiner verstorbenen Schwester einzieht. Als hochstrebender Geschäftsmann hat der Stuckgeschäftsinhaber auch eine junge Haushaltshilfe, die gleichzeitig als Bürokraft fungiert. Für das Annemariechen ist kein Platz im Haus der Mutti, die muss bei der Oma bleiben. Damit die Beiden nicht alleine sind, hat der Gustl eine Flüchtlingsfamilie bei seiner Mutter einquartiert. Toll organisiert!

Das Motorrad und der Anhänger haben ausgedient. In der neuen Lagerhalle befindet sich der ganze Stolz des Gustl: Ein neues knallgelbes Dreirad, Marke Goliath, mit Keilriemen zum Vorderradantrieb. Siebenundzwanzig PS und eine Ladefläche, wo man eine dreiviertel Tonne transportieren kann. Wie gesagt, der Gustl ist fleißig! Wer ist schon fünf Jahre nach Kriegsende Geschäftinhaber, Auto- und Hausbesitzer?

 

Nicht nur der August ist fleißig, die Behörden in der großen Stadt sind es ebenfalls. Eines Tages kommt eine Beauftragte des Vormundschaftsgerichts, um sich nach den beiden Vollwaisen Karlheinz und Annemarie zu erkundigen. Und die Beamtin freut sich ganz und gar nicht, dass die Kinder von der Oma, vom Großonkel und der Großtante versorgt werden, während der Onkel Gustl nebst Hausfrau im Eigentum der Kinder seiner Schwester wohnt. „Die Kinder brauchen einen Vormund“ spricht die Dame vom Amt. Nur der Vormund darf im Einfamilienhaus der Kinder wohnen – und zwar mit den Kindern. Am besten sei ein Amtsvormund, der für die Immobilie auch Miete bezahlt und diese vorschriftsmäßig verwaltet, bis die Kinder der Frieda mündig sind. Bei einem Tässchen Kaffee einigt man sich, dass der Onkel Gustl unter Auflagen als Vormund eingesetzt wird. Er unterschreibt eine Verfügung, dass er regelmäßig Miete abführt und seine Mündel zu sich nimmt. Die Behördentante nimmt alles sehr genau und dem „Onkel Vormund“ ist nicht wohl in seiner Haut. Sie verabschiedet sich mit der fadenscheinigen Bemerkung: „Es muss Alles seinen gerechten Gang gehen; verstehen sie das sehr wohl – oder sehen sie das anders?“

 

Nein, aber nein; der Gustl hat schon verstanden! Am nächsten Tag spricht er beim Vormundschaftsgericht vor und erhält seine benötigten, amtlichen Unterlagen. Die Sache mit dem Annemariechen lässt sich relativ einfach regeln. Sie wohnt ja nur einen Steinwurf weit entfernt bei seiner Mutter. Mit der lässt sich schon reden.

 

Aber die Dickschädel da oben in der Oberpfalz. Der Hans und die Resl geben das Kind niemals her, da ist er sich sicher. Der Hans ist bei den Bauernköpfen und den Hinterwäldlern ein hochgeachteter Mann, sinniert er. Mit der Resl würde er schon fertig werden – aber mit dem Hans? Der kennt sich mit den Behörden noch besser aus als er selbst. Er weiß sich keinen Rat.

 

Und was der Gustl auch nicht weiß, ist die Tatsache, dass der Hans, den er fürchtet, noch ein paar Splitter einer Granate von Verdun in seinem Körper mit sich herumträgt. Und diese Plagegeister wandern immer auf und ab, genau so wie der Gustl momentan im Wohnzimmer.

 

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Die Sonne brennt heiß auf Hauxdorf herunter. Der Dorfweiher ist ausgetrocknet. Das Gras um den Lindenbaum herum ist gelb und dürr. Das karge Land ist ausgelaugt. Nicht einmal der Rolfi wagt sich aus seiner Hütte. Die Enten und Gänse watscheln daher, als kämen sie von einem ausgedehnten Frühschoppen.

 

Das geschnittene Korn ist zu Männchen aufgestellt. Es muss schnellstens in die Scheunen. Das Barometer zeigt Regen an. Wenn nach so einer erbarmungslosen Hitze das Wetter umschlägt, rumpelt es gewaltig am Himmel und kräftige Schauer bringen nicht nur Regen, sondern mitunter Hagelkörner, so groß wie Taubeneier. Da ist die Ernte schnell vernichtet! Der Hans und die Resl haben eine Erntehilfe. Die Schwester vom Aschenhof hat die Katharina, kurz Kathi genannt, geschickt.

Die Kathi ist quasi als Ersatz für das Mariechen abkommandiert. Die hätte besser im Winter geheiratet und nicht zur Kornmahd. Aber die Aschenhöfer können das Mädchen entbehren, die haben ein halbes Dutzend Mädchen in der Familie.

 

Der Hans und die Resl kommen überein, dass die Mama und die Kathi die restlichen Kornmännchen vom Feld holen, während der Dadda auf dem Getreideboden ein paar Schindeln auswechseln will, die der letzte Sturm beschädigt hat. Es soll doch nicht hereinregnen. Drei oder viermal sind die Mama und die Kathi schon aufs Feld gefahren. Ein letztes Mal will man hinaus, um das restliche Korn trocken nach Hause zu bringen. Die Kräfte der Kühe lassen merklich nach, denn bei jeder Fuhre müssen sie den eisenbereiften Erntewagen die steile Schotterstraße hinaufziehen. Die Rinder hat man mit Teeröl eingeschmiert, damit sie nicht gar zu sehr von den lästigen Stechmücken gemartert werden. Der Kare hilft dem Onkel Hans beim Auswechseln der Schindeln und der Waggi baut im Sandkasten eine Burg. Es sind ja die langen Sommerferien!

 

Recht langweilig ist es dem Heinzi, aber wenn die Mama und die Kathi mit dem letzten Fuder Getreide da sind, gibt es eine ausgiebige Brotzeit.

 

Plötzlich kommt der Kare aus der Scheune gesaust wie ein geölter Blitz und beachtet den Waggi gar nicht. Na so was! Er rennt einfach an ihm vorbei, zum Hoftor hinaus. Der Dadda muss aber einen gehörigen Durst haben, wenn der Kare so schnell zum Gilchbauern seiner Flaschenbierhandlung rennt. Bier ist doch im Felsenkeller neben dem Hasenstall gelagert und zur Brotzeit gibt es sowieso ein Seidlein kühles Bier. Der alte Gilchbauer sitzt den ganzen Tag vor seinem Flaschendepot und bedient die Kundschaft und beobachtet das Dorfgeschehen. Er wird von allen Bauern mit seinem Wissen gebraucht, wenn eine Kuh kalbt oder sonst etwas Wichtiges passiert. Jetzt kommt der Kare wieder zurückgerannt, der alte Gilch hinkt, so gut er kann, hinter ihm her. Sie beachten den Waggi überhaupt nicht, wo doch seine Sandburg fast fertig ist.

 

Zum zweitenmal macht der Kare seinen Dauerlauf. Diesesmal kommt die alte Schiederin mit. Sie ist die Pfarrersmutter vom Dorf. Die schreit unentwegt: „Ach du lieber Gott, ach du lieber Gott – so ein Unglück, so ein schlimmes Unglück“, und verschwindet auch in der Scheune. Die Schiederin mag der Waggi nicht, weil sie ihm einmal eine gehörige Watsch’n verabreicht hat, als er ihre schönste schwarze Geiß mit Hilfe von Kalkfarbe zu einem Zebra verwandelt hat. Und die Pfarrersmutter schreit immer so laut, weil sie schwerhörig ist. Wenn die Schiederin da ist, bleibt der Waggi lieber brav im Sandkasten sitzen, obwohl er doch zu genau wüsste, was da hinten im Stadel los ist.

 

Auch seinen Vater, den Sepp vom Gemeindehäuschen, hat der Kare geholt. Sogar der Sepp mit seinem Holzhax’n hinkt schneller als üblich. Der Kare setzt sich nun, außer Atem, auf die Steinumfassung des Sandkastens und erzählt dem Waggi ganz aufgeregt, dass der Onkel Hans plötzlich umgefallen ist und keinen Muckser*) mehr gemacht hat. Und jetzt müsse er schnell aufs Feld, der Mama und der Kathi Bescheid sagen.

 

Die Pfarrersmutter kommt als Erste wieder aus der Scheune und weint. Die Schiederin weint – das gibt es doch nicht! Sie kommt zum Waggi und nimmt ihn bei der Hand. Ob sie von der Hitze wohl leinen Sonnenstich bekommen hat?

 

*) keine Bewegung

Und sie faselt so wirres Zeug daher: „Armer Waggi, arme Resl, oh Gott oh Gott. Welch ein Unglück. Warum nur, warum?“

 

Endlich kommen auch der alte Gilch und der Sepp aus der Scheune. Sie tragen den Dadda ins Haus und die Nachbarin weint immer noch und hält den Waggi fest an der Hand, dass er nicht zum Dadda hin kann. Sie legen den Hans auf das Kanapee in der Stube und falten ihm die Hände zusammen. Der Dadda scheint zu schlafen. Die Schiederin sagt zum Waggi, ob er nicht weinen muss, da der Dadda doch tot ist. Aber der Heinzi hat doch den Dadda vor geraumer Zeit noch in die Scheune gehen sehen und glaubt es nicht, dass er tot ist.

 

Als die Mama vom Feld kommt hält die Pfarrersmutter noch immer den Waggi seine Hand. Das ist gut so, denn die Mama bricht über dem Dadda zusammen und ruft immer nur seinen Namen: „Hans, ach Hans, was hast du mir angetan?“ Der Gilch und der Sepp halten sie und da fängt auch der Waggi zu weinen an. Und er kann nicht zu der Mama, weil ihn die Schiederin nicht loslässt. Endlich – nach endlosen langen Minuten, erhebt sich die Mama wieder vom Fußboden und der Waggi darf zu ihr und ihre Hand drücken.

 

Die Kathi und der Kare kommen mit dem Gespann und dem letzen Fuder in den Hof gefahren. Die Kühe bleiben im Geschirr, der Kare muss den Herrn Pfarrer holen. Die Kathi bringt die geweihten Kerzen und der Sepp geht über den Hof, als hätte er einen Doppelzentner Weizen auf dem Buckel. Er muss seine Pflicht tun und steigt zum Glockenhäuschen hinauf. Bald wissen es alle Leute im Umkreis von fünf Kilometern, dass der Obstbaumwart und Landwirt Johann Hecht gestorben ist. Und Alle kommen zum Beileid kondolieren. Die Schlacht um Verdun hat ein spätes Opfer gefordert. Der Dadda nimmt seine Granatensplitter vom Vierzehner- achtzehner- Krieg mit in die Grube – ins Grab – in die geweihte Erde.

 

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Eine schöne Leich*) hat der Hans gehabt.

 

Die Dorfgemeinschaft hilft der Witwe nach dem schmerzlichen Verlust ihres Mannes, wo es nur geht, obwohl im Sommer jede Kraft selbst gebraucht wird. Zu allem Leid kommt noch hinzu, dass der Kare seine Lehrzeit als Mauerer beginnt. Der Ludwig erhält einen Ausbildungsplatz als Porzellanmaler. Just in diesen Tagen ergibt es sich, dass der Sepp und sein Weib eine günstige Wohnung in Erbendorf bekommen. Da hat das Reserl nicht mehr so weit zur Schule und für die Zwillinge ist es auch bequemer, wenn sie ins große Dorf mit den zwei Fabriken und den zwei Kirchen umziehen, meint der Sepp. Und seine Alte ist ja schon seit eh und je eine Fachkraft der Porzellanfabrik. Und selber hat er auch einen Nebenjob in der Fabrik bekommen. Die Arbeit ist besser bezahlt als das anstrengende Hinaufsteigen zum Glockenhäusel. So muss nun ein Weiberleut’ alle Tage das Gebetläuten verrichten. Der Waggi ist sehr traurig - noch trauriger als beim Tod der Mutti und des Dadda - weil er seinen großen Kameraden Kare verloren hat. Den Karl vermisst er sehr. Noch mehr vermisst die Mama den Dadda. Unentwegt weint sie.

 

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*) große Beerdigungsfeier

 

Die Schwester hat zur Erntezeit noch ein Mädchen geschickt. Die Johanna, die sonst als Schneiderin in Erbendorf arbeitet. Die Hanni weiß im Stall und im Haushalt und mit dem Waggi gut umzugehen. Sie kann alle Arbeiten und sie macht alle Arbeiten. Alles ist anders geworden, im Haus Nummer Neun von Hauxdorf. Vom einstigen Kinderreichtum ist der Resl nur noch der Waggi geblieben, den sie liebt, als hätte sie ihm im Mutterschoß getragen. Der Bub’ hat die Mama ebenso lieb und lernt daher auch sehr fleißig. Nach den großen Ferien soll er ins Gymnasium nach Weiden überwechseln. Ob der Waggi vielleicht auch Pfarrer wird, wie der Schiederin ihr Willi? Oder wie der Böckl Adolf, der letztes Jahr Primizfeier hatte und wo der Heinzi vor dem Jungpriester ein Gedicht aufsagen durfte. Aus dem kleinen Dorf mit den zwölf Häusern sind schon drei Pfarrer hervorgegangen. Der liebe Gott meint es gut mit Hauxdorf. Nur die Resl, seine treueste Dienerin, scheint er vergessen zu haben.

 

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Wieder brennen die Kartoffelfeuer. Wenn die Erdäpfel eingekellert sind und der Schlag des Sensen dengeln nicht mehr durchs Dorf hallt, beginnt die stille Zeit. Der Waggi muss mit der höheren Schule noch ein Jahr warten, weil er zuvor noch zur Heiligen Firmung soll – sagen der Lehrer Baumann und der Benefiziaht Köferl. In der warmen Wohnstube der Mama wird noch mehr gestrickt als letztes Jahr, wo doch jetzt drei Frauen im Haus sind – und kein Mann. Kein munteres Lärmen von sechs Kindern dringt mehr nach draußen und auch kein fröhliches Lachen. Die Therese hat tiefe eingefallene Augen und spricht wenig. Die Kathi und die Hanni wissen nicht, ob die Tante Resl und wann sie schläft. Stets ist sie die Letzte, die schlafen geht; und sie ist schon in der Küche, wenn die Anderen aufstehen.

 

Das Abendglöcklein hat schon lange das Ave Maria geläutet. Die Tiere sind versorgt und die Stube ist aufgeräumt. Ein Tagwerk ist vollbracht. Die Mama will den Waggi zu Bett bringen, obwohl der Heinzi schon fast zu groß ist, um getragen zu werden. Sie hört als Erste das Brummen und löscht instinktiv das Licht. Es muss ein Auto sein. Wer bekommt denn um diese späte Uhrzeit Besuch? Bestimmt ist es der Tierarzt oder der Doktor, der sich um diese Stunde noch nach einem vier- oder zweibeinigen Patienten kümmert. Das Brummen wird lauter und hört sich nun an wie schwärmende Bienen. Das muss ein fremdes Fahrzeug sein, das die steile Schotterstraße heraufkommt. Die Hanni schiebt neugierig den Vorhang zur Seite, um besser zu sehen, zu wem das Fahrzeug fährt. Gleich lässt sie den Vorhang fallen, denn der Lichtkegel des Autos scheint ihr mitten ins Gesicht. Der Rolfi kläfft und zerrt wie ein Wilder an der Kette. Vor dem Hoftor hält ein Dreirad – ein gelbes Dreirad der Marke Goliath.

 

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Die Resl wagt es nicht, das Licht wieder anzuknipsen. Sie drückt den Waggi ganz fest an sich. Die Kathi und die Hanni sitzen eng aneinandergeschmiegt auf der Eckbank. Der Rolfi hat sich beruhigt und bellt nicht mehr. Die Stille lässt die Minuten zu Stunden werden. Im gelben Goliath rührt sich nichts. Das Licht des Autos wurde ausgeschaltet und die Insassen machen sich weder durch hupen noch durch rufen bemerkbar. Niemand steigt aus – niemand kommt zum Hoftor herein. Das bedeutet nichts Gutes. Nach geraumer Zeit hallt ein fordernder Ruf durch die Nacht. Die Stimme, die durch die Nacht hallt, durchdringt der Resl ihr Herz wie ein Schwert. Alles Blut ist aus ihrem Gesicht gewichen. Sie ist kreidebleich.

Den fremden Dialekt kennen die Mama und der Heinzi von der Mutti her und es ist ein fränkischer Rufer, der nun fordernd Einlass begehrt: „Resl mach auf, ich weiß, dass du daheim bist!“ Die Mama weiß auch, warum der August aus Nürnberg gekommen ist. Dessen Mutter ist ja auch der Resl ihre Schwägerin; und die Maria war neulich beim Hans seiner Beerdigung hier und hat ihr allerhand vom Gustl erzählt und dass er als Vormund für den Waggi und die Annemarie eingesetzt wurde. Da hallt es wieder durch die Nacht: „Resl, mach auf, sonst muss ich die Polizei holen, ist dir das lieber?“

 

Stille. Hätte man die Mama jetzt abgestochen, wäre kein Tropfen Blut aus ihr heraus gekommen. Und der starke August ruft noch fordernder: „Dann eben mit der Polizei!“

 

Sie schaltet das Licht wieder ein und stellt den Waggi auf den Fußboden. Die Kathi soll mit dem Heinzi nach oben ins Schlafzimmer gehen. Die Hanni soll zum Hoftor und den ungebetenen Gast hereinlassen. Die Resl setzt sich an den Tisch und faltet die Hände. Nicht einmal das Trauerjahr hat er abwarten können, der Gustl. Die leidgeprüfte Frau hat keine Kraft mehr und keine Tränen. Sie hat ausgeweinte Augen. Was hätten Tränen und Flehen beim August schon genützt? Sie kennt ihn!

 

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August, der Starke ist nicht alleine gekommen. Er hat seine Haushälterin mitgebracht. Die Papiere vom Vormundschaftsgericht sind perfekt. Der Onkel Gustl wurde als Vormund für die Frieda ihre zwei Kinder eingesetzt. Nachts kommt er, und ohne Voranmeldung, um den Waggi abzuholen. Und jetzt fleht die Resl trotzdem, obwohl sie von der Nichterfüllung ihrer Bitte im Voraus überzeugt ist: Lass’ mir doch das Kind da, der Bub ist doch das Einzige, was mir noch geblieben ist“. Die Resl sei doch nur die Großtante, nicht einmal eine Tante, meint der Gustl. Da hat man doch keine Muttergefühle! Und die Annemarie hat so große Sehnsucht nach ihrem Bruder. Die Kinder gehören zusammen. Und in der Großstadt lernt der Karlheinz mehr als auf dem Land. Ins Gymnasium darf er auch gehen und in den Ferien darf der Junge stets zu ihr kommen. Und die Haushälterin kann auch mit Kindern umgehen! Dabei hatte sie noch nie welche. Er, der Onkel Vormund würde schon aufpassen, dass aus dem Karlheinz etwas Rechtes wird!

 

Jedes Wort trifft die Resl wie ein Peitschenhieb. Obwohl sie es nicht will, rinnen einige Tränen über ihr gramverzerrtes Gesicht. Sie verbirgt ihr eingefallenes Antlitz in ihren abgearbeiteten Händen und ruft nach ihrem Hans: „Ach Hans, warum bist du nicht mehr da!“ Sie verflucht den Gustl nicht, dafür ist ihr Herz zu rein, aber nach dem Dadda ruft sie in der Tiefe bitterster Verzweiflung. Die Hanni heult und geht aus dem Zimmer. Sie geht die Treppe hoch, zur Kathi und zum Waggi.

 

Als der Waggi hört, dass er von der Mama für immer weg soll und mit den fremden Leuten nach Nürnberg muss, springt er auf und rennt davon. Zur Treppe poltert er hinunter und saust zum Hoftor hinaus. In seiner Not rennt er zur Schieder- Mutter, die er doch immer nicht mochte. Er zerrt am Gartentür’l und schreit nach der Pfarrersmutter. Und die Schiederin kommt und führt den Waggi ins Haus. Der Heinzi darf bei ihr bleiben, bis die fremden Leute wieder weg sind, verspricht die Schiederin dem zitternden Buben. Die brave Frau hat ja keine Ahnung, was sie dem Heinzi- Waggi da verspricht. Sie kennt sich halt nicht aus, mit amtlichen Stempeln und Siegeln und sie kennt auch kein Vormundschaftsgericht.

Die Stunden verrinnen. Es geht schon auf Mitternacht zu, als sich der Waggi endlich überreden lässt, den neuen Onkel und die neue Tante doch wenigstens einmal anzuschauen. Die Mama holt ihr Kind selbst von der Nachbarin ab. Sie führt den Waggi zurück auf Haus Nummer Neun, das er jetzt verlassen soll. Widerspenstig lässt er sich ii die Stube schieben. Da sitzen ein fremder Mann und eine fremde Frau am Tisch, die er noch nie gesehen hat.

 

Der Onkel Gustl hat eine laute Stimme, ganz anders als sie der Dadda hatte. „Du bist also der Karlheinz“, hört der Waggi den Fremden sprechen. Wenn er wenigstens „Heinzi“ gesagt hätte! Der Waggi rührt sich nicht von der Stelle. Er weigert sich, den fremden Menschen die Hand zu reichen. Er klammert sich an die Hand der Mama und macht einen weiten Bogen um die komischen Leute aus der großen Stadt. Die Mama setzt sich auf das Sofa und nimmt den Waggi, wie so oft in den ersten zehn Jahren seines Lebens, auf den Schoß.

 

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Viel haben die zwei Personen aus der großen Stadt erzählt: Das schöne Haus von der Mutti kennt der Karlheinz doch schon, meint der Onkel Gustl. Und die Annemarie freut sich schon auf ihn. Und die Oma freut sich auch! Und wenn es dem Karlheinz nicht gefällt, fährt ihn der Onkel Vormund am Sonntag wieder zur Mama nach Hauxdorf zurück zur Tante Therese.

 

Der Waggi meint, dem neuen Onkel trauen zu dürfen. Die Mama verspricht ihm, beim Abschied nicht zu weinen, wenn er mit nach Nürnberg fährt. Zum Lehrer Baumann will die Mama am nächsten Tag auch gehen und ihm sagen, dass der Heinzi nun in der großen Stadt das Gymnasium besuchen darf. Und zum Kare und zum Luggi soll die Mama gehen und ihnen sagen, dass er ganz bestimmt bald wieder kommen werde.

 

Die Resl möchte sterben. Was soll sie denn noch auf dem Hof. Für wen soll sie sich denn jetzt noch abrackern? Sie will die Landwirtschaft aufgeben. Die Kinder der Schwester sollen alles bekommen. Sie kann nicht mehr. Da muss sie nun die Kleider ihres Buben in den Koffer packen und sie der Waggi wird sie verlassen. Sie denkt zurück und fühlt, wie das Herzblut verströmt und die Liebe gemartert wird. Sind wir dazu auf dieser Welt, mein Herr und mein Gott?

 

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Es ist eng in dem gelben Dreirad. Der Waggi sitzt zwischen dem neuen Onkel und der neuen Tante. Auf der Ladefläche liegen zwei Säcke mit Kartoffeln, ein paar Krautköpfe und ein Kistchen Winteräpfel. Einen Laib Brot und das größte Stück geräucherten Schinken vom Schlot hat die Mama eingepackt. Und dem Waggi sein Koffer liegt auch auf dem Lastwägelchen, mit dem in der Regel Kalk, Zement, Sand und Gips transportiert werden.

 

Der neue Tag zieht herauf, als der Gustl den gelben Goliath startet. Die Mama winkt dem Waggi nach und dieser winkt zurück. Links und rechts von der Mama stehen die Kathi und die Hanni und winken auch. Und die Schieder- Mutter, die der Waggi auf einmal liebgewonnen hat, steht am Hoftor und winkt ihm ebenfalls nach. Und der Rolfi jault – oder weint er?

Der Waggi nimmt Abschied von Hauxdorf. Aber nicht nur vom Dorf und seiner Heimat nimmt er Abschied, sondern von einem Stück einer glückseligen Kindheit und einer gekreuzigten Liebe. Und in den Ställen brennt das Licht und die Kühe muhen, denn sie wollen gemolken werden. Der Heinzi nimmt Abschied von einer heilen Welt.

 

Ein Kind, das nur Sanftmut und Mutterliebe kennt; ein Zehnjähriger, dem nur Liebe und Barmherzigkeit gelehrt wurde, fährt mit den fremden Leuten die Schotterstraße von Hauxdorf hinunter, auf der im die Mutti einst im Weidenkörbchen auf dem Fahrrad hinaufgeschoben hatte. Bald brennen die Kartoffelfeuer wieder…

 

Der Waggi, der noch an den Klapperstorch und an das Christkind glaubt, nimmt Abschied von allem Guten und von der schützenden Hand der Mama. Die liebste Mutter der Welt, die nach irdischen Gesetzen weniger wert ist als ein Fetzen Papier mit amtlichen Stempeln und Siegeln. Wie hat der starke August es ausgedrückt: „ Es ist doch nur die Großtante“. Der Waggi fährt in den neuen Morgen und in ein neues Leben hinein. Es wird alles anders. Er lernt andere Menschen kennen und eine andere Sprache: Die Sprache der Gewalt. Er lernt viele neue Worte und Sachen kennen, die er noch nicht kennt: Strafe, Härte, Prügel, Qual, Lüge, Verleumdung, Gier, Streit und Abartigkeiten der Menschlichkeit. Fünf Jahre dauert der Gang durch die Hölle. Aus dem Waggi ist der Karlheinz geworden, wo er doch lieber der Waggi geblieben wäre. Doch die Jahre der geschundenen Seele und die erkalteten Herzen seiner neuen Welt lassen den Heinzi nicht vergessen und abweichen von den Wurzeln, die die Mama in ihn gepflanzt hat. Er glaubt an Gott, an die Mutter Gottes, an Jesus – und er weiß, dass sein Erlöser lebt. Die über Allem stehende Liebe und den Glauben an das Gute können Menschen nicht vernichten. Sie können die Liebe kreuzigen, wer aber kann sie töten, wo sie doch immer wieder aufersteht!

 

Ja – über Allem steht die Liebe, über Alles siegt die Liebe. Über aller irdischen Liebe sind wir eingebunden in die Agape- Liebe des einzigen und wahren Gott, des Vaters in den Himmeln – dem Schöpfer des Universums. Das Weinen des Zerschlagenen findet Zutritt bei IHM.

 

 

Er führet mich auf rechter Straße um Seines Namens willen… und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück – Du bist bei mir. Amen.

 

 

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© Karlheinz Döring